Meine Lieblingsmärchen aus der Kindheit.

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern,
Die wilden Schwäne,
Die roten Schuhe,
Die sieben Raben,
Jorinde und Joringel,
Das Schneeglöckchen,
Schneeweißchen und Rosenrot
Brüderchen und Schwesterchen
Der linke und der rechte Flügel
Das rosa Tütchen

Die kleinen Leute von Swabedoo
Der Drache des Schreckens
Das Licht am Ende des Ganges
Das kleine Glück am Wegrand
Da darst Du sein
Das schönste Herz
Der Zauberstern
Warum die Liebe blind ist

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Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Es war entsetzlich kalt; es schneite, und der Abend dunkelte bereits; es war der
letzte Abend im Jahre,Silvesterabend. In dieser Kälte und in dieser Finsternis
ging auf der Straße ein kleines armes Mädchen mit bloßem Kopfe und nackten Füßen.
Es hatte wohl freilich Pantoffeln angehabt, als es von zu Hause fortging,
aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Pantoffeln, sie waren früher
von seiner Mutter gebraucht worden, so groß waren sie, und diese hatte die Kleine verloren,
als sie über die Straße eilte, während zwei Wagen in rasender Eile vorüberjagten;
der eine Pantoffel war nicht wieder aufzufinden und mit dem anderen
machte sich ein Knabe aus dem Staube, welcher versprach, ihn als Wiege zu benutzen,
wenn er einmal Kinder bekäme.

Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten zierlichen Füßchen, die vor Kälte
ganz rot und blau waren. In ihrer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund
hielt sie in der Hand. Während des ganzen Tages hatte ihr niemand etwas abgekauft,
niemand ein Almosen gereicht. Hungrig und frostig schleppte sich die arme Kleine weiter und
sah schon ganz verzagt und eingeschüchtert aus. Die Schneeflocken fielen auf ihr langes blondes Haar,
das schön gelockt über ihren Nacken hinabfloß, aber bei diesem Schmucke weilten ihre
Gedanken wahrlich nicht. Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz und über
alle Straßen verbreitete sich der Geruch von köstlichem Gänsebraten.
Es war ja Silvesterabend, und dieser Gedanke erfüllte alle Sinne des kleinen Mädchens.

In einem Winkel zwischen zwei Häusern, von denen das eine etwas weiter in die
Straße vorsprang als das andere, kauerte es sich nieder. Seine kleinen Beinchen
hatte es unter sich gezogen, aber es fror nur noch mehr und wagte es trotzdem nicht,
nach Hause zu gehen, da es noch kein Schächtelchen mit Streichhölzern verkauft hatte,
noch keinen Heller erhalten hatte. Es hätte gewiss vom Vater Schläge bekommen,
und kalt war es zu Hause ja auch; sie hatten das bloße Dach gerade über sich, und der
Wind pfiff schneidend hinein, obgleich Stroh und Lumpen in die größten Ritzen gestopft waren.
Ach, wie gut mußte ein Schwefelhölzchen tun! Wenn es nur wagen dürfte,
eins aus dem Schächtelchen herauszunehmen, es gegen die Wand zu streichen und
die Finger daran zu wärmen! Endlich zog das Kind eins heraus. Ritsch! wie sprühte es,
wie brannte es. Das Schwefelholz strahlte eine warme helle Flamme aus, wie ein kleines Licht,
als es das Händchen um dasselbe hielt. Es war ein merkwürdiges Licht;
es kam dem kleinen Mädchen vor, als säße es vor einem großen eisernen Ofen
mit Messingbeschlägen und Messingverzierungen; das
Feuer brannte so schön und wärmte so wohltuend!
Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen -
da erlosch die Flamme.Der Ofen verschwand - sie saß mit einem Stümpchen
des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand da.

Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und an der Stelle der Mauer,
auf welche der Schein fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Flor. Die Kleine sah gerade in
die Stube hinein, wo der Tisch mit einem blendend weißen Tischtuch und feinem Porzellan
gedeckt stand, und köstlich dampfte die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllte,
gebratene Gans darauf. Und was noch herrlicher war, die Gans sprang aus der
Schüssel und watschelte mit Gabel und Messer im Rücken über den
Fußboden hin; gerade die Richtung auf das arme Mädchen schlug sie ein.
Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke kalte Mauer war zu sehen.

Sie zündete ein neues an. Da saß die Kleine unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum;
er war noch größer und weit reicher ausgeputzt als der, den sie am Heiligabend bei
dem reichen Kaufmann durch die Glastür gesehen hatte. Tausende von
Lichtern brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder, wie die, welche in den
Ladenfenstern ausgestellt werden, schauten auf sie hernieder, die Kleine streckte
beide Hände nach ihnen in die Höhe - da erlosch das Schwefelholz.
Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, und sie
sah jetzt erst, daß es die hellen Sterne waren.
Einer von ihnen fiel herab und zog einen langen Feuerstreifen über den Himmel.

"Jetzt stirbt jemand!" sagte die Kleine, denn die alte Großmutter,
die sie allein freundlich behandelt hatte, jetzt aber längst
tot war, hatte gesagt: "Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele zu Gott empor!"

Sie strich wieder ein Schwefelholz gegen die Mauer; es warf einen
weiten Lichtschein ringsumher, und im Glanze desselben stand die
alte Großmutter hell beleuchtet mild und freundlich da.

"Großmutter!" rief die Kleine, "oh, nimm mich mit dir! Ich weiß, daß du
verschwindest, sobald das Schwefelholz ausgeht, verschwindest,
wie der warme Kachelofen, der köstliche Gänsebraten und
der große flimmernde Weihnachtsbaum!" Schnell strich sie den ganzen
Rest der Schwefelhölzer an, die sich noch im Schächtelchen befanden,
sie wollte die Großmutter festhalten; und die Schwefelhölzer
verbreiteten einen solchen Glanz, daß es heller war als am lichten Tag.
So schön, so groß war die Großmutter nie gewesen; sie nahm das kleine
Mädchen auf ihren Arm, und hoch schwebten sie empor in Glanz und
Freude; Kälte, Hunger und Angst wichen von ihm - sie war bei Gott.

Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine
Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten
Tage des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der kleinen
Leiche auf, die mit den Schwefelhölzern, wovon fast ein Schächtelchen
verbrannt war, da saß. "Sie hat sich wärmen wollen!" sagte man.
Niemand wußte, was sie schönes gesehen hatte, in welchem
Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.

(Hans Christian Andersen)


Die wilden Schwäne

Weit von hier, dort, wo die Schwalben hinfliegen, wenn wir Winter haben,
wohnte ein König der elf Söhne und eine Tochter Elisa hatte.
Die elf Brüder waren Prinzen und gingen mit dem Stern auf der Brust
und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben mit Diamantgriffeln auf
Goldtafeln und lernten ebenso gut auswendig, wie sie lasen; man konnte gleich hören,
daß sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel
von Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, welches für das halbe Königreich erkauft war.
Oh, die Kinder hatten es so gut; aber so sollte es nicht immer bleiben!

Ihr Vater, welcher König über das ganze Land war, verheiratete sich mit
einer bösen Königin, die den armen Kindern gar nicht gut war. Schon am ersten Tag
konnten sie es merken. Auf dem ganzen Schloß war große Pracht, und da spielten die
Kinder "Es kommt Besuch", aber statt daß sie, wie sonst, allen Kuchen und alle
gebratenen Äpfel erhielten, die nur zu haben waren, gab sie ihnen bloß
Sand in einer Teetasse und sagte, sie möchten tun, als ob etwas darin sei.

Die Woche darauf brachte sie die kleine Schwester Elisa auf das Land zu
einem Bauernpaar, und lange währte es nicht, da redete sie dem König
so viel von den armen Prinzen vor, daß er sich gar nicht mehr um sie kümmerte.

"Fliegt hinaus in die Welt und ernährt euch selbst!" sagte die böse
Königin. "Fliegt wie die großen Vögel ohne Stimme!" Aber sie konnte es doch nicht so
schlimm machen, wie sie gern wollte; sie wurden elf herrliche wilde Schwäne.
Mit einem sonderbaren Schrei flogen sie aus den Schloßfenstern
hinaus über den Park und den Wald dahin.

Es war noch ganz früh am Morgen, als sie da vorbeikamen, wo die Schwester
Elisa in der Stube des Landmannes lag und schlief. Hier schwebten sie über
dem Dach, drehten ihre langen Hälse und schlugen dann mit den Flügeln,
aber niemand hörte oder sah es. Sie mußten wieder weiter, hoch gegen die
Wolken empor, hinaus in die weite Welt. Da flogen sie hin zu einem großen
dunklen Wald, der sich bis an den Strand erstreckte.

Die arme, kleine Elisa stand in der Stube des Landmannes und spielte
mit einem grünen Blatt; anderes Spielzeug hatte sie nicht. Und sie stach ein
Loch in das Blatt, sah hindurch und gegen die Sonne empor, und da war es,
als sähe sie ihrer Brüder klare Augen. Jedesmal, wenn die warmen Sonnenstrahlen
auf ihre Wangen schienen, gedachte sie aller ihrer Küsse.

Ein Tag verging ebenso wie der andere. Strich der Wind durch die großen
Rosenhecken draußen vor dem Haus, so flüsterte er den Rosen zu:
"Wer kann schöner sein als Ihr?" Aber die Rosen schüttelten das Haupt
und sangen: "Elisa ist es!" Und saß die alte Frau am Sonntag vor der
Tür und las in ihrem Gesangbuch so wendete der Wind die Blätter um
und sagte zum Buch: "Wer kann frömmer sein als du?" - "Elisa ist es!"
sagte das Gesangbuch. Und es war die reine Wahrheit,
was die Rosen und das Gesangbuch sagten.

Als sie fünfzehn Jahre alt war, sollte sie nach Hause. Und als die Königin sah,
wie schön sie war, wurde sie ihr gram und voll Haß. Gern hätte sie sie in
einen wilden Schwan verwandelt wie die Brüder, aber das wagte sie
nicht gleich, weil ja der König seine Tochter sehen wollte.

Frühmorgens ging die Königin in das Bad, welches von Marmor erbaut und mit
weichen Kissen und den prächtigsten Decken geschmückt war. Und sie nahm drei
Kröten, küßte sie und sagte zu der einen: "Setze dich auf Elisas Kopf, wenn sie in
das Bad kommt, damit sie dumm wird wie du!" "Setze dich auf ihre Stirn, damit
sie häßlich wird wie du, so daß ihr Vater sie nicht kennt!" "Ruhe an ihrem Herzen",
flüsterte sie der dritten zu; "laß sie einen bösen Sinn erhalten, damit sie
Schmerzen davon hat!" Dann setzte sie die Kröten in das klare Wasser, welches
sogleich eine grüne Farbe erhielt, rief Elisa, zog sie aus und ließ sie in das Wasser
hinabsteigen. Und indem Elisa untertauchte, setzte sich die eine Kröte ihr in das
Haar, die andere auf ihre Stirn und die dritte auf die Brust. Aber sie schien es gar
nicht zu merken. Sobald sie sich emporrichtete, schwammen drei rote Mohnblumen
auf dem Wasser. Wären die Tiere nicht giftig gewesen und von der Hexe
geküßt worden, so wären sie in rote Rosen verwandelt.
Aber Blumen wurden sie doch, weil sie auf ihrem
Haupt und an ihrem Herzen geruht hatten. Sie war zu fromm und unschuldig,
als daß die Zauberei Macht über sie haben konnte!

Als die böse Königin das sah, rieb sie Elisa mit Walnußsaft ein, so daß sie ganz
schwarzbraun wurde, bestrich ihr das hübsche Antlitz mit einer stinkenden Salbe
und ließ das herrliche Haar sich verwirren. Es war unmöglich,
die schöne Elisa wiederzuerkennen.

Als sie der Vater sah, erschrak er sehr und sagte, es sei nicht seine Tochter.
Niemand, außer dem Kettenhund und den Schwalben, wollte sie
erkennen; aber das waren arme Tiere, die nichts zu sagen hatten.

Da weinte die arme Elisa und dachte an ihre elf Brüder, die alle weg waren.
Betrübt stahl sie sich aus dem Schloß und ging den ganzen Tag über Feld und
Moor bis in den großen Wald hinein. Sie wußte gar nicht, wohin sie wollte,
aber die fühlte sich so betrübt und sehnte sich nach ihren Brüdern. Die waren sicher
auch, gleich ihr, in die Welt hinausgejagt, die wollte sie suchen und finden.
Nur kurze Zeit war sie im Wald gewesen, da brach die Nacht an. Sie kam
ganz vom Weg und Steg ab, darum legte sie sich auf das weiche Moos nieder,
betete ihr Abendgebet und lehnte ihr Haupt an einen Baumstumpf.
Es war da so still, die Luft so mild, und ringsumher im Gras und im Moos
leuchteten, einem grünen Feuer gleich, Hunderte von Johanneswürmchen.
Als sie einen der Zweige leise mit der Hand berührte,
fielen die leuchtenden Käfer wie Sternschnuppen zu ihr nieder.

Die ganze Nacht träumte sie von ihren Brüdern. Sie spielten wieder als Kinder,
schrieben mit dem Diamantgriffel auf die Goldtafel und betrachteten das herrliche
Bilderbuch, welches das halbe Reich gekostet hatte. Aber auf die Tafel
schrieben sie nicht, wie früher, Nullen und Striche, sondern die mutigen Taten,
die sie vollführt, alles, was sie erlebt und gesehen hatten. Und im Bilderbuch war
alles lebendig, die Vögel sangen, und die Menschen gingen aus dem Buch heraus
und sprachen mit Elisa und ihren Brüdern. Aber wenn diese das Blatt
umwendeten, sprangen sie gleich wieder zurück, damit
keine Unordnung hineinkomme.

Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch. Sie konnte sie freilich nicht sehen,
die hohen Bäume breiteten ihre Zweige dicht und fest über sie aus. Aber die
Strahlen spielten dort oben gerade wie ein wehender Goldflor.
Da war ein Duft von Grünem, und die Vögel setzten sich fast
auf ihre Schultern. Sie hörte Wasser plätschern. Das waren viele große
Quellen, die alle in einen See ausliefen, in dem der herrlichste Sandhoden war.
Freilich wuchsen dort dichte Büsche ringsumher, aber an einer
Stelle hatten die Hirsche eine große Lichtung gemacht, und hier
ging Elisa zum Wasser hin. Dies war so klar, daß man, wenn der Wind
nicht die Zweige und Büsche berührte, so daß sie sich bewegten, hätte glauben
können, sie seine auf dem Boden abgemalt, so deutlich spiegelte sich dort jedes
Blatt, sowohl das, welches von der Sonne beschienen, als das, welches im Schatten war.

Sobald Elisa ihr eigenes Gesicht erblickte, erschrak sie,
so braun und häßlich war es. Doch als sie ihre kleine Hand benetzte und
Augen und Stirne rieb, glänzte die weiße Haut wieder vor.
Da entkleidete sie sich und ging in das frische Wasser hinein.
Ein schöneres Königskind, als sie war, wurde in dieser Welt nicht gefunden.

Als sie sich wieder angekleidet und ihr langes Haar geflochten hatte,
ging sie zur sprudelnden Quelle, trank aus der hohlen Hand
und wanderte tief in den Wald hinein, ohne selbst zu wissen,
wohin. Sie dachte an ihre Brüder, dachte an den lieben Gott,
der sie sicher nicht verlassen würde. Gott ließ die wilden Waldäpfel
wachsen, um die Hungrigen zu sättigen. Er zeigte ihr einen solchen Raum,
die Zweige bogen sich unter der Last der Früchte. Hier hielt sie ihre
Mittagsmahlzeit, setzte Stützen unter die Zweige und ging
dann in den dunkelsten Teil des Waldes hinein.

Da war es so still, daß sie ihre eigenen Fußtritte hörte sowie jedes
kleinste vertrocknete Blatt, welches sich unter ihrem Fuße bog.
Nicht ein Vogel war da zu sehen, nicht ein Sonnenstrahl konnte durch die
großen, dunklen Baumzweige dringen. Die hohen Stämme standen
so nahe beisammen, daß es, wenn sie vor sich in sah, ganz so schien,
als ob ein Balkengitter dicht beim andern sie umschlösse.
Oh, hier war eine Einsamkeit, wie sie solche früher nie gekannt!

Die Nacht wurde ganz dunkel. Nicht ein einziger kleiner Johanniswurm
leuchtete aus dem Moos. Betrübt legte sie sich nieder, um zu schlafen.
Da schien es ihr, als ob die Baumzweige über ihr sich zur Seite bewegten
und der liebe Gott mit milden Augen auf sie niederblickte, und kleine
Engel sahen über seinem Kopf und unter seinen Armen hervor.

Als sie am Morgen erwachte, wußte sie nicht, ob sie es geträumt hatte oder
ob es wirklich so gewesen. Sie ging einige Schritte vorwärts, da begegneten
sie einer alten Frau mit Beeren in ihrem Korb. Die Alte gab ihr einige davon.
Elisa fragte, ob sie nicht elf Prinzen durch den Wald habe reiten sehen.

"Nein!" sagte die Alte; "aber ich sah gestern elf Schwäne mit
Goldkronen auf dem Haupt den Fluß hier hinabschwimmen!"

Und sie führte Elisa ein Stück weiter vor zu einem Abhang.
Am Fuße desselben schlängelte sich ein Flüßchen.
Die Bäume an seinen Ufern streckten ihre langen, blattreichen Zweige
einander entgegen, und wo sie ihrem natürlichen Wuchse nach nicht
zusammenreichen konnten, da waren die Wurzel aus der Erde losgerissen
und hingen, mit den Zweigen ineinander geflochten, über das Wasser hinaus.

Elisa sagte der Alten Lebewohl und ging das Flüßchen
entlang, bis wo dieses ins große, offene Meer hinausfloß.

Das ganze herrliche Meer lag vor dem jungen Mädchen, aber nicht
ein Segel zeigte sich darauf, nicht ein Boot war da zu sehen. Wie sollte
sie nun dort weiter fort kommen? Sie betrachtete die unzähligen kleinen
Steine am Ufer, das Wasser hatte sie alle rund geschliffen. Glas,
Eisen, Seine, alles, was da zusammengespült lag, hatte seine Form
durch das Wasser bekommen, welches doch viel weicher war als
ihre feine Hand. "Das rollt unermüdlich fort, und so ebnet sich das Harte.
Ich will ebenso unermüdlich sein. Dank für eure Lehre, ihr klaren,
rollenden Wogen; einst, das sagte mir mein Herz, werdet
ihr mich zu meinen lieben Brüdern tragen!"

Auf dem angespülten Seegras lagen elf weiße Schwanenfedern!
Sie sammelte sie zu einem Strauß. Es lagen Wassertropfen darauf -
ob es Tau oder Tränen waren, konnte man nicht sehen. Einsam war es dort am Strand,
aber sie fühlte es nicht, denn das Meer bot eine dauernde Abwechslung, ja
mehr in nur wenigen Stunden, als die Landseen in einem ganzen Jahr
aufweisen können. Kam eine große, schwarze Wolke, so war das, als
ob die See sagen wollte: "Ich kann auch finster aussehen."
Und dann blies der Wind, und die Wogen kehrten das Weiße nach außen.
Schienen aber die Wolken rot und schliefen die Winde, so war das Meer einem
Rosenblatt gleich; bald wurde es grün, bald weiß.
Aber wie still es auch ruhte, am Ufer war doch eine leise
Bewegung, das Wasser hob sich schwach
wie die Brust eines schlafenden Kindes.

Als die Sonne unterzugehen im Begriff war, sah Elisa elf wilde
Schwäne mit Goldkronen auf dem Kopf dem Lande zufliegen. Sie schwebten
einer hinter dem anderen, es sah aus wie ein langes, weißes Band.
Da stieg Elisa den Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busch.
Die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder
und schlugen mit ihren großen, weißen Schwingen.

Sobald die Sonne hinter dem Wasser war, fielen plötzlich die
Schwanengefieder, und elf schöne Prinzen, ihre Brüder, standen da.
Sie stieß einen lauten Schrei aus; obwohl sie sich sehr verändert
hatte, wußte sie doch, daß sie es waren, fühlte sie, daß sie es sein müßten.
Und sie sprang in ihre Arme und nannte sie bei Namen. Und die Prinzen
fühlten sich so glücklich, als sie ihre kleine Schwester sahen, und erkannten
sie, die nun groß und schön war. Sie lachten und weinten,
und bald hatten sie verstanden, wie böse ihre
Stiefmutter gegen sie alle gewesen war.

"Wir Brüder", sagte der älteste, "fliegen als wilde Schwäne, solange die
Sonne am Himmel steht; sobald sie untergegangen ist, erhalten wir
unsere menschliche Gestalt wieder. Deshalb müssen wir immer aufpassen,
beim Sonnenuntergang eine Ruhestätte für die Füße zu haben, denn fliegen
wir um diese Zeit gegen die Wolken empor, so müssen wir als Menschen in
die Tiefe hinunterstürzen. Hier wohnen wir nicht; es liegt ein ebenso
schönes Land wie dieses jenseits der See. Aber der Weg dahin ist weit.
Wir müssen über das große Meer, und es findet sich keine Insel auf
unserm Wege, wo wir übernachten könnten; nur eine einsame,
kleine Klippe ragt in der Mitte hervor, sie ist nicht größer,
als daß wir dicht nebeneinander darauf ruhen können. Ist die
See stark bewegt, so spritzt das Wasser hoch über uns; aber doch
danken wir Gott für sie. Da übernachten wir in unserer Menschengestalt;
ohne diese könnten wir nie unser liebes Vaterland besuchen,
denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen wir für unseren Flug.
Nur einmal im Jahr ist es uns vergönnt, unsere Heimat zu besuchen.
Elf Tage dürfen wir hier bleiben und über den großen Wald
hinfliegen, von wo wir das Schloß, in dem wir geboren wurden
und wo unser Vater wohnt, erblicken und den hohen Kirchturm
sehen können, wo die Mutter begraben ist. Hier kommt es uns vor,
als seien Bäume und Büsche mit uns verwandt; hier laufen die
wilden Pferde über die Steppen hin, wie wir es in unserer Kindheit
gesehen; hier singt der Kohlenbrenner die alten Lieder,
nach denen wir als Kinder tanzten; hier ist unser Vaterland;
hierher fühlen wir uns gezogen, und hier haben wir dich,
du liebe, kleine Schwester, gefunden! Zwei Tage können wir
noch hier bleiben, dann müssen wir fort über das Meer, nach einem
herrlichen Land, welches aber nicht unser Vaterland ist!
Wie bringen wir dich fort? Wir haben weder Schiff noch Boot!"

"Auf welche Art kann ich euch erlösen?" fragte die Schwester.
Und sie unterhielten sich fast die ganze Nacht,
es wurde nur einige Stunden geschlummert.

Elisa erwachte von dem Rauschen der Schwanenflügel, welche über ihr
sausten, die Brüder waren wieder verwandelt. Und sie flogen in großen
Kreisen und zuletzt weit weg, aber der eine von ihnen, der jüngste, blieb zurück.
Und der Schwan legte den Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte seine
Flügel, den ganzen Tag waren sie beisammen. Gegen Abend kamen die andern
zurück, und als die Sonne untergegangen war, standen sie in natürlicher Gestalt da.

"Morgen fliegen wir von hier weg und können vor Ablauf eines ganzen
Jahres nicht zurückkehren. Aber dich können wir nicht so verlassen! Hast du Mut,
mitzukommen? Mein Arm ist stark genug, dich durch den Wald zu tragen.
Sollten wir da nicht alle so starke Flügel haben, um mit dir über
das Meer zu fliegen?" "Ja, nehmt mich mit!" sagte Elisa.

Die ganze Nacht brachten sie damit zu, aus der geschmeidigen
Weidenrinde und dem zähen Schild ein Netz zu flechten, und das
wurde groß und fest. Auf dieses Netz legte sich Elisa, und als die Sonne
hervortrat und die Brüder in wilde Schwäne verwandelt wurden, ergriffen sie
das Netz mit ihren Schnäbeln und flogen mit ihrer lieben Schwester,
die noch schlief, hoch gegen die Wolken empor. Die Sonnenstrahlen fielen ihr
gerade auf das Antlitz, deshalb flog einer der Schwäne über ihrem
Kopf, damit seine breiten Schwingen sie beschatten konnten.

Sie waren weit vom Land entfernt, als Elisa erwachte. Sie glaubte noch zu
träumen, so sonderbar kam es ihr vor, hoch durch die Luft über das
Meer getragen zu werden. An ihrer Seite lag ein Zweig mit herrlichen
reifen Beeren und ein Bündel wohlschmeckender Wurzeln, die hatte der
jüngste der Brüder gesammelt und ihr hingelegt. Sie lächelte ihn dankbar
an, denn sie erkannte ihn, er war es, der über ihr folg und
sie mit den Schwingen beschattete.

Sie waren so hoch, daß das größte Schiff, welches sie unter sich erblickten,
eine weiße Möwe zu sein schien, die auf dem Wasser lag. Eine große
Wolke stand hinter ihnen, das war ein ganzer Berg. Und auf diesem sah
Elisa ihren eigenen Schatten und den der elf Schwäne, so riesengroß
flogen sie dahin. Das war ein Gemälde, prächtiger, als sie früher
je eins gesehen. Doch als die Sonne höher stieg und die Wolke
weiter zurückblieb, verschwand das schwebende Schattenbild. Den ganzen Tag
flogen sie fort, gleich einem sausenden Pfeil durch die Luft; aber es
ging doch langsamer als sonst, denn jetzt hatten sie die Schwester zu tragen.
Es zog ein böses Wetter auf, der Abend brach herein. Ängstlich sah Elisa
die Sonne sinken, und noch war die einsame Klippe im Meere nicht zu erblicken.
Es kam ihr vor, als machten die Schwäne stärkere Schläge mit den Flügeln.
Ach, sie war Schuld daran, daß sie nicht rasch genug fortkamen. Wenn die Sonne
untergegangen war, so mußten sie Menschen werden, in das Meer stürzen
und ertrinken. Da betete sie aus dem Innersten des Herzens ein Gebet
zum lieben Gott; aber noch erblickte sie keine Klippe. Die schwarze Wolke
kam näher, die starken Windstöße verkündeten einen Sturm. Die Wolken
standen in einer einzigen, großen, drohenden Welle da, welche fast wie Blei
vorwärts schoß, Blitz leuchtete auf Blitz.

Jetzt war die Sonne gerade am Rande des Meeres. Elisas Herz bebte.
Da schossen die Schwäne hinab, so schnell, daß sie zu fallen glaubte.
Aber nun schwebten sie wieder. Die Sonne war halb unter dem Wasser,
da erblickte sie erst die kleine Klippe unter sich. Sie sah nicht größer
aus, als ob es ein Seehund sei, der den Kopf aus de Wasser streckte.
Die Sonne sank so schnell, jetzt erschien sie nur noch wie ein Stern.
Da berührte ihr Fuß den festen Grund! Die Sonne erlosch gleich
dem letzten Funken im brennenden Papier. Arm in Arm sah sie die
Brüder um sich stehen; aber mehr Platz, als gerade für diese
und sie war auch nicht da. Die See schlug gegen die Klippe und
ging wie Staubregen über sie hin. Der Himmel leuchtete in einem
fortwährenden Feuer, und Schlag auf Schlag rollte der Donner.
Aber Schwester und Brüder faßten sich an den Händen und
sangen Psalmen, aus denen sie Trost und Mut schöpften.

In der Morgendämmerung war die Luft rein und still, Sobald die Sonne
emporstieg, flogen die Schwäne mit Elisa von der Insel fort. Das Meer
ging noch hoch; es sah aus, wie sie hoch in der Luft waren,
als ob der weiße Schaum auf der schwarzgrünen See Millionen Schwäne
seien, die auf dem Wasser schwammen.

Als die Sonne höher stieg, sah Elisa vor sich, halb in der Luft schwimmend,
ein Bergland mit glänzenden Eismassen auf den Felsen. Und mitten
darauf erhob sich ein meilenlanges Schloß mir einem kühnen Säulengang
über dem andern; unten wogten Palmenwälder und Prachtblumen,
so groß wie Mühlräder. Sie fragte, ob das das Land sei, wo sie hin
wollten; aber die Schwäne schüttelten mit dem Kopf, denn das, was
sie sah, war der Fata Morgana herrliches, allzeit wechselndes Wolkenschloß,
in das durften sie keinen Menschen hineinbringen. Elisa starrte es an,
da stürzten Berge, Wälder und Schloß zusammen, und zwanzig
stolze Kirchen, alle einander gleich, mit hohen Türmen und spitzen
Fenstern standen vor ihnen. Sie glaubte die Orgeln ertönen zu
hören, aber es war das Meer, welches sie hörte. Nun war sie den Kirchen
ganz nahe, da wurden sie zu einer ganzen Flotte, die unter ihr dahinsegelte;
doch als sie hinunterblickte, waren es nur Meernebel, die über dem
Wasser hinglitten. So hatte sie eine ewige Abwechslung vor den Augen,
und dann sah sie das wirkliche Land, zu dem hin sie wollten. Dort erhoben
sich die herrlichsten blauen Berge mit Zedernwäldern, Städten und
Schlössern. Lange bevor die Sonne unterging, saß sie auf dem
Felsen vor einer großen Höhle, die mit feinen grünen
Schlingpflanzen bewachsen war, es sah aus, als seien es gestickte Teppiche.

"Nun wollen wir sehen, was du diese Nacht hier träumst",
sagte der jüngste Bruder und zeigte ihr die Schlafkammer.

"Gebe der Himmel, daß ich träumen möge, wie ich euch erretten kann!"
sagte sie. Und dieser Gedanke beschäftigte sie lebhaft. Sie betete recht
inbrünstig zu Gott um seine Hilfe, ja, selbst im Schlafe fuhr sie
fort zu beten. Da kam es ihr vor, als ob sie hoch in die Luft fliege,
zu der Fata Morgana Wolkenschloß. Und die Fee kam ihr entgegen, so
schön und glänzend; und doch glich sie ganz der alten Frau, die ihr
Beeren im Walde gegeben und ihr von den Schwänen mit Goldkronen
auf dem Kopfe erzählt hatte.

"Deine Brüder können erlöst werden!" sagte sie; "Aber hast du Mut
und Ausdauer? Wohl ist das Wasser weicher als deine feinen Hände, und doch
formt es die Steine um; aber es fühlt nicht die Schmerzen, die deine Finger
fühlen werden. es hat kein Herz, leidet nicht die Angst und Qual, die
du aushalten mußt. Siehst du die Brennessel, die ich in meiner Hand halte?
Von derselben Art wachsen viele rings um die Höhle, wo du schläfst;
nur die dort und die, welche auf des Kirchhofs Gräbern wachsen, sind
tauglich, merke dir das. Die mußt du pflücken, obgleich sie deine Hand
voll Blasen brennen werden. Brich die Nesseln mit deinen Füßen,
so erhältst du einen Flachs; aus diesem mußt du elf Panzerhemden mit
langen Ärmeln flechten und binden. Wirf diese über die elf Schwäne,
so ist der Zauber gelöst. Aber bedenke wohl, daß du von dem Augenblick,
wo du diese Arbeit beginnst, bis zu dem, wo sie vollendet ist, wenn
auch Jahre darüber vergehen, nicht sprechen darfst. Das erste
Wort, welches du sprichst, geht als tötender Dolch in deiner
Brüder Herz! An deiner Zunge hängt ihr Leben. Merke dir das alles."

Und sie berührte zugleich ihre Hand mit der Nessel. Es war einem
brennenden Feuer gleich; Elisa erwachte dadurch. Es war heller
Tag, und dicht daneben, wo sie geschlafen hatte, lagt eine Nessel
wie die, welche sie im Traum gesehen. Da fiel sie auf ihre Knie,
dankte dem lieben Gott und ging aus der Höhle hinaus,
um ihre Arbeit zu beginnen.

Mit den feinen Händen griff sie hinunter in die häßlichen Nesseln,
diese waren wie Feuer. Große Blasen brannten sie an ihren Händen und
Armen; aber gern wollte sie es leiden, konnte sie nur die lieben
Brüder befreien. Sie brach jede Nessel mit ihren bloßen
Füßen und flocht den grünen Flachs.

Als die Sonne untergegangen war, kamen die Brüder, und sie
erschraken, sie so stumm zu finden. Sie glaubten, es sei ein neuer
Zauber der bösen Stiefmutter. Aber als sie ihre Hände erblickten,
begriffen sie, was sie ihrethalben tat. Und der jüngste Bruder
weinte, und wohin seine Tränen fielen, da fühlte sie keine Schmerzen,
da verschwanden die brennenden Blasen.

Die Nacht brachte sie bei ihrer Arbeit zu, denn sie hatte keine Ruhe,
bevor sie die lieben Brüder erlöst hätte. Den ganzen folgenden Tag,
während die Schwäne fort waren, saß sie in ihrer Einsamkeit; aber noch
nie war die Zeit ihr so schnell entflohen. Ein Panzerhemd war schon
fertig, nun fing sie das zweite an.

Da ertönte ein Jagdhorn zwischen den Bergen; sie wurde von Furcht ergriffen.
Der Ton kam immer näher, sie hörte Hunde bellen; erschrocken floh sie
in die Höhle, band die Nesseln, die sie gesammelt und gehechelt
hatte, in ein Bund zusammen und setzte sich drauf.

Sogleich kam ein großer Hund aus der Schlucht hervorgesprungen,
und gleich darauf wieder einer und noch einer; sie bellten laut, liefen
zurück und kamen wieder vor. Es währte nur wenige Minuten, so standen
alle Jäger vor der Höhle, und der schönste unter ihnen war der König
des Landes. Er trat auf Elisa zu, nie hatte er ein schöneres Mädchen gesehen.

"Wie bist du hierher gekommen, du herrliches Kind?" frage er.
Elisa schüttelte den Kopf, sie durfte ja nicht sprechen; es
galt ihrer Brüder Erlösung und Leben. Und sie verbarg ihre Hände
unter der Schürze, damit der König nicht sehen solle, was sie leiden mußte.

"Kommt mit mir!" sagte er, "hier darfst du nicht bleiben.
Bist du so gut, wie du schön bist, so will ich dich in Seide und
Samt kleiden, die Goldkrone dir auf das Haupt setzen, und du
sollst in meinem reichsten Schloß wohnen und hausen!" Und dann
hob er sie auf sein Pferd. Sie weinte und rang die Hände, aber der
König sagte: "Ich will nur dein Glück! Einst wirst du mir
dafür danken". Und dann jagte er fort durch die Berge und hielt sie vorn auf dem
Pferd, und die Jäger jagten hinterher.

Als die Sonne unterging, lag die schöne Königsstadt mit Kirchen und
Kuppeln vor ihnen. Und der König führte sie in das Schloß, wo
große Springbrunnen in den hohen Marmorsälen plätscherten, wo Wände
und Decken mit Gemälden prangten. Aber sie hatte keine Augen dafür,
sie weinte und trauerte. Willig ließ sie sich von den Frauen königliche
Kleider anlegen, Perlen in ihre Haar flechten und feine Handschuhe
über die verbrannten Finger ziehen. Als sie in ihrer Pracht dastand,
war sie so blendend schön, daß der Hof sich noch tiefer verneigte.
Und der König erkor sie zu seiner Braut, obgleich der Erzbischof
den Kopf schüttelte und flüsterte, daß das schöne Waldmädchen
ganz sicher eine Hexe sein, sie blende die Augen und betöre das
Herz des Königs.

Aber der König hörte nicht darauf, ließ die Musik ertönen,
die köstlichsten Gerichte auftragen und die lieblichsten
Mädchen um sie tanzen. Und sie wurde durch duftende Gärten
in prächtige Säle hineingeführt, aber nicht ein Lächeln kam
auf ihre Lippen oder sprach aus ihren Augen. Wie ein Bild
der Trauer stand sie da. Dann öffnete der König eine kleine
Kammer dicht daneben, wo sie schlafen sollte; die war mit
köstlichen grünen Teppichen geschmückt und glich ganz der
Höhle, in der sie gewesen war. Auf dem Fußboden lag das
Bund Flachs, welches sie aus den Nesseln gesponnen hatte, und
unter der Decke hing das Panzerhemd, welches fertig gestrickt war.
Alles dieses hatte ein Jäger als Kuriosität mitgenommen.

"Hier kannst du dich in deine frühere Heimat zurückträumen!"
sagte der König. "Hier ist die Arbeit, die dich dort beschäftigte.
Jetzt, mitten in all deiner Pracht, wird es dich erfreuen,
an jene Zeit zurückzudenken."

Als Elisa das sah, was ihrem Herzen so nahe lag, spielte ein Lächeln
um ihren Mund, und das Blut kehrte in ihre Wangen zurück.
Sie dachte an die Erlösung ihrer Brüder, küßte des Königs Hand;
und er drückte sie an sein Herz und ließ durch alle Kirchenglocken das
Hochzeitsfest verkünden. Das schöne, stumme Mädchen aus dem Walde
ward des Landes Königin.

Da flüsterte der Erzbischof böse Worte in des Königs Ohren,
aber sie drangen nicht bis zu seinem Herzen. Die Hochzeit sollte stattfinden;
der Erzbischof selbst mußte ihr die Krone auf das Haupt setzen,
und er drückte mit bösem Sinn den engen Ring fest auf ihre Stirn nieder,
so daß es schmerzte. Doch ein schwererer Ring lag um ihr Herz,
die Trauer um ihre Brüder. Sie fühlte nicht die körperlichen Leiden.
Ihr Mund war stumm, ein einziges Wort würde ja ihren Brüdern
das Leben kosten. Aber in ihren Augen sprach sich innige
Liebe zu dem guten, schönen König aus, der alles tat, um sie zu erfreuen.
Von ganzem Herzen gewann sie ihn von Tag zu Tag lieber;
oh, daß sie nur sich ihm vertrauen und ihre Leiden klagen
dürfte! Doch stumm mußte sie sein, stumm mußte sie ihr Werk
vollbringen. Deshalb schlich sie sich des Nachts von seiner Seite,
ging in die kleine Kammer, welche wie die Höhle geschmückt war,
und strickte ein Panzerhemd nach dem andern fertig.
Aber als sie das siebente begann, hatte sie keinen Flachs mehr.

Auf dem Kirchhof, das wußte sie, wuchsen Nesseln, die sie brauchen
konnte; aber die mußte sie selber pflücken. Wie sollte sie da hinaus
gelangen!

"Oh, was ist der Schmerz in meinen Fingern gegen die Qual, die mein
Herz erduldet!" dachte sie. "Ich muß es wagen! Der Herr wird seine Hand
nicht von mir nehmen!" Mit einer Herzensangst, als sei es eine
böse Tat, die sie vorhabe, schlich sie sich in der mondhellen Nacht
in den Garten hinunter und ging durch die Alleen und durch die einsamen
Straßen zum Kirchhof hinaus. Da sah sie auf einem der breitesten
Grabsteine einen Kreis Lamien sitzen. Diese häßlichen Hexen
nahmen ihre Lumpen ab, als ob sie sich baden wollten, und dann gruben
sie mit den langen, mageren Fingern die frischen Gräber auf,
holten Leichen heraus und aßen ihr Fleisch. Elisa mußte nahe
an ihnen vorbei, und sie hefteten ihre bösen Blicke auf sie; aber sie betete still,
sammelte die brennenden Nesseln und trug sie zu dem Schlosse heim.

Nur ein einziger Mensch hatte sie gesehen: der Erzbischof. Er war munter, wenn
die andern schliefen. Nun hatte er doch recht mit seiner Meinung, daß
es mit der Königin nicht sei, wie es sein sollte; sie sei eine Hexe,
deshalb habe sie den König und das ganze Volk betört.

Im Beichtstuhl sagte er dem König, was er gesehen hatte und was er fürchtete.
Und als die harten Worte seiner Zunge entströmten, schüttelten
die Heiligenbilder die Köpfe, als wenn sie sagten wollten:
"Es ist nicht so! Elisa ist unschuldig!" Aber der Erzbischof legte es anders
aus, er meinte, daß sie gegen sie zeugten, daß sie über ihre
Sünden die Köpfe schüttelten. Da rollten zwei schwere Tränen über des Königs
Wangen herab. Er ging nach Hause mit Zweifel in seinem Herzen und
stellte sich, als ob er in der Nacht schlafe. Aber es kam kein ruhiger
Schlaf in seine Augen, er merkte, wie Elisa aufstand. Jede Nacht wiederholte
sie dieses, und jedesmal folgte er ihr sacht nach und sah, wie sie
in ihrer Kammer verschwand.

Tag für Tag wurde seine Miene finsterer; Elisa sah es, begriff aber nicht,
weshalb. Allein es ängstigte sie, und was litt sie nicht im Herzen für die Brüder.
Auf den königlichen Staat und Purpur flossen ihre heißen Tränen; die lagen
da wie schimmernde Diamanten, und alle, welche die reiche Pracht
sahen, wünschten Königin zu sein. Inzwischen war sie bald mit ihrer
Arbeit fertig, nur ein Panzerhemd fehlte noch. Aber Flachs hatte sie auch
nicht mehr, nicht eine einzige Nessel. Einmal, nur dieses letzte Mal mußte
sie deshalb zum Kirchhof und einige Handvoll pflücken. Sie dachte
mit Angst an diese einsame Wanderung und an die schrecklichen
Lamien; aber ihr Wille stand fest sowie ihr Vertrauen auf den Herrn.

Elisa ging, aber der König und der Erzbischof folgten ihr. Sie sahen
sie bei der Gitterpforte zum Kirchhof hinein verschwinden, und als sie
sich näherten, saßen die Lamien auf dem Grabstein, wie Elisa sie
gesehen hatte. Und der König wendete sich ab, denn unter ihnen
dachte er sich die, deren Haupt noch diesen Abend an seiner
Brust geruht hatte.

"Das Volk muß sie verurteilen!" sagte er. Und das Volk verurteilte
sie, in den roten Flammen verbrannt zu werden.

Aus den prächtigen Königssälen wurde sie in ein dunkles, feuchtes
Loch geführt, wo der Wind durch das Gitter hineinpfiff. Statt Samt
und Seide gab man ihr das Bund Nesseln, welches sie gesammelt hatte,
darauf konnte sie ihr Haupt legen. Die harten, brennenden Panzerhemden,
die sie gestrickt hatte, sollten ihre Decken sein. Aber nichts
Lieberes hätte man ihr geben können; sie nahm wieder ihre
Arbeit vor und betete zu ihrem Gott. Draußen sangen die Straßenbuben
Spottlieder auf sie; keine Seele tröstete sie mit einem freundlichen Wort.

Da schwirrte gegen Abend dicht am Gitter ein Schwanenflügel.
Das war der jüngste der Brüder. Er hatte die Schwester gefunden,
und sie schluchzte laut vor Freude, obgleich sie wußte, daß die kommende
Nacht wahrscheinlich die letzte sein würde, die sie zu leben hatte.
Aber nun war ja auch die Arbeit fast beendigt, und ihre Brüder waren hier.

Der Erzbischof kam nun, um in der letzten Stunde bei ihr zu sein, das hatte
er dem König versprochen. Aber sie schüttelte das Haupt und bat mit
Blicken und Mienen, er möge gehen. In dieser Nacht mußte sie ja ihre
Arbeit vollenden, sonst war alles unnütz, alles, Schmerz, Tränen und
die schlaflosen Nächte. Der Erzbischof entfernte sich mit bösen Worten
gegen sie, aber die arme Elisa wußte, daß sie unschuldig war,
und fuhr in ihrer Arbeit fort.

Die kleinen Mäuse liefen auf dem Fußboden, sie schleppten Nesseln zu ihren
Füßen hin, um doch etwas zu helfen. Und die Drossel setzte sich an
das Gitter des Fensters und sang die ganze Nacht so munter,
wie sie konnte, damit Elisa nicht den Mut verlieren möchte.

Es dämmerte noch, erst nach einer Stunde ging die Sonne auf.
Da standen die elf Brüder an der Pforte des Schlosses und verlangten, vor
den König geführt zu werden. Das könne nicht geschehen, wurde geantwortet,
es sei ja noch Nacht; der König schlafe und dürfe nicht geweckt werden.
Sie baten, sie drohten, die Wache kam, ja selbst der König trat heraus
und fragte, was das bedeute. Da ging gerade die Sonne auf, und
nun waren keine Brüder zu sehen; aber über das Schloß flogen
elf wilde Schwäne hin.

Aus dem Stadttor strömte das ganze Volk; es wollte die Hexe
verbrennen sehen. Ein alter Gaul zog den Karren, auf dem sie saß.
Man hatte ihr einen Kittel von grobem Sackleinen angezogen; ihr herrliches
Haar hing aufgelöst um das schöne Haupt; ihre Wangen waren totenbleich,
ihre Lippen bewegten sich leise, während die Finger den grünen
Flachs zurichteten. Selbst auf dem Weg zu ihrem Tode unterbrach sie die
angefangene Arbeit nicht. Die zehn Panzerhemden lagen zu ihren Füßen,
an dem elften arbeitete sie. Der Pöbel verhöhnte sie.

"Sieh die rote Hexe, wie sie murmelt! Kein Gesangbuch hat sie in der Hand,
nein, mit ihrer häßlichen Gaukelei sitzt sie da. Reißt sie ihr in tausend Stücke!"
Und sie drangen alle auf sie ein und wollten die Panzerhemden zerreißen.
Da kamen elf wilde Schwäne geflogen, die setzten sich rings um sie
auf den Karren und schlugen mit ihren großen Schwingen.
Nun wich der Haufe erschrocken zur Seite.

"Das ist ein Zeichen des Himmels! Sie ist sicher unschuldig!"
flüsterten viele. Aber sie wagten nicht, es laut zu sagen.

Jetzt ergriff der Henker sie bei der Hand. Da warf sie hastig die elf
Panzerhemden über die Schwäne. Und sogleich standen elf schöne
Prinzen da. Aber der jüngste hatte einen Schwanenflügel statt des
einen Armes, denn es fehlte ein Ärmel in seinem
Panzerhemd; den hatte sie nicht fertig gebracht.

"Jetzt darf ich sprechen!" sagte sie. "Ich bin unschuldig!"

Und das Volk, welches sah, was geschehen war, neigte sich vor
ihr wie vor einer Heiligen. Aber sie sank wie leblos in der
Brüder Arme, so hatten Spannung, Angst und Schmerz
auf sie gewirkt.

"Ja, unschuldig ist sie", sagte der älteste Bruder, und nun erzählte
er alles, was geschehen war. Und während er sprach, verbreitete sich ein
Duft wie von Millionen Rosen, denn jedes Stück Brennholz im
Scheiterhaufen hatte Wurzel geschlagen und trieb Zweige. Es stand
eine duftende Hecke da, hoch und groß mit roten Rosen; ganz
oben saß eine Blume, weiß und glänzend, sie leuchtete
wie ein Stern. Die pflückte der König und steckte
sie an Elisas Brust. Da erwachte sie mit Frieden und
Glückseligkeit im Herzen.

 

Und alle Kirchenglocken läuteten von selbst, und die
Vögel kamen in großen Zügen. Es wurde ein Hochzeitszug
zurück zum Schloß, wie ihn noch kein König gesehen hatte!
(Hans Christian Andersen)

Die roten Schuhe

Es war einmal ein kleines Mädchen, gar fein und hübsch;
aber es war arm und mußte im Sommer immer barfuß gehen,
und im Winter mit großen Holzschuhen, so daß der kleine Spann
ganz rot wurde; es war zum Erbarmen.

Mitten im Dorfe wohnte die alte Schuhmacherin; sie setzte sich hin und
nähte, so gut sie es konnte, von alten roten Tuchlappen
ein paar kleine Schuhe. Recht plump wurden sie ja,
aber es war doch gut gemeint, denn das kleine
Mädchen sollte sie haben. Das kleine Mädchen hieß Karen.

Just an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde, bekam sie die
roten Schuhe und zog sie zum ersten Male an; sie waren ja freilich
zum Trauern nicht recht geeignet, aber sie hatte keine anderen,
und so ging sie mit nackten Beinchen darin hinter dem
ärmlichen Sarge her.

Da kam gerade ein großer, altmodischer Wagen dahergefahren;
darin saß eine stattliche alte Dame. Sie sah das kleine
Mädchen an und hatte Mitleid mit ihm, und deshalb sagte
sie zu dem Pfarrer: "Hört, gebt mir das kleine Mädchen,
ich werde für sie sorgen und gut zu ihr sein!"

Karen glaubte, daß sie alles dies den roten Schuhen
zu danken habe. Aber die alte Frau sagte, daß sie schauderhaft
seien, und dann wurden sie verbrannt. Karen
selbst wurde reinlich und nett gekleidet; sie mußte Lesen und
Nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei niedlich; aber der
Spiegel sagte: "Du bist weit mehr als niedlich, Du bist schön."

Da reiste einmal die Königin durch das Land, und
sie hatte ihre kleine Tochter bei sich, die eine Prinzessin war.
Das Volk strömte zum Schlosse und Karen war auch dabei.
Die kleine Prinzessin stand in feinen weißen Kleidern in einem
Fenster und ließ sich bewundern. Sie hatte weder Schleppe noch
Goldkrone, aber prächtige rote Saffianschuhe. Die waren freilich weit
hübscher als die, welche die alte Schuhmacherin
für die kleine Karen genäht hatte. Nichts in der Welt war doch
solchen roten Schuhen vergleichbar!

Nun war Karen so alt, daß sie eingesegnet werden sollte.
Sie bekam neue Kleider und sollte auch neue Schuhe haben.
Der reiche Schuhmacher in der Stadt nahm Maß an ihrem
kleinen Fuß. Das geschah in seinem Laden, wo große Glasschränke
mit niedlichen Schuhen und blanken Stiefeln standen.
Das sah gar hübsch aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen
und hatte daher auch keine Freude daran. Mitten zwischen den Schuhen
standen ein paar rote, ganz wie die, welche die Prinzessin
getragen hatte. Wie schön sie waren! Der Schuhmacher sagte auch,
daß sie für ein Grafenkind genäht worden seien,
aber sie hätten nicht gepaßt.

"Das ist wohl Glanzleder" sagte die alte Dame, "sie glänzen so."

"Ja, sie glänzen!" sagte Karen, und sie paßten gerade und
wurden gekauft. Aber die alte Dame wußte nichts davon,
daß sie rot waren, denn sie hätte Karen niemals erlaubt, in roten
Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das geschah nun also.

Alle Menschen sahen auf ihre Füße, und als sie durch die Kirche
und zur Chortür hinein schritt, kam es ihr vor, als ob selbst
die alten Bilder auf den Grabsteinen, die Steinbilder der Pfarrer
und Pfarreresfrauen mit steifen Kragen und langen schwarzen
Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese
dachte sie, als der Pfarrer seine Hand auf ihr Haupt legte und von der
heiligen Taufe sprach und von dem Bunde mit Gott, und daß sie nun
eine erwachsene Christin sein sollte. Und die Orgel spielte so feierlich,
die hellen Kinderstimmen sangen und der alte Kantor sang,
aber Karen dachte nur an die roten Schuhe.

Am Nachmittag hörte die alte Dame von allen Leuten, daß die Schuhe
rot gewesen wären, und sie sagte das wäre recht häßlich und
unschicklich, und Karen müsse von jetzt ab stets mit schwarzen Schuhen
zur Kirche gehen, selbst wenn sie alt wären.

Am nächsten Sonntag war Abendmahl, und Karen sah die schwarzen
Schuhe an, dann die roten, - und dann sah sie die roten wieder an
und zog sie an.

Es war herrlicher Sonnenschein; Karen und die alte Dame gingen einen
Weg durch das Kornfeld; da stäubte es ein wenig.

An der Kirchentür stand ein alter Soldat mit einem Krückstock und einem
gewaltig langen Barte, der war mehr rot als weiß, er war sogar fuchsrot.
Er verbeugte sich tief bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre
Schuhe abstäuben dürfe. Und Karen streckte ihren kleinen Fuß
auch aus. "Sieh, was für hübsche Tanzschuhe", sagte der Soldat, "sitzt fest, wenn Ihr tanzt."
Und dann schlug er mit der Hand auf die Sohlen.

Die alte Dame gab dem Soldaten einen Schilling, und dann ging sie
mit Karen in die Kirche.

Alle Menschen drinnen blickten auf Karens rote Schuhe, und alle Bilder
blickten darauf, und als Karen vor dem Altar kniete und den
goldenen Kelch an ihre Lippen setzte, dachte sie nur an die
roten Schuhe. Es war ihr, als ob sie selbst in dem Kelche vor ihr
schwämmen; und sie vergaß, den Choral mitzusingen und vergaß,
ihr Vaterunser zu beten.

Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren
Wagen. Karen hob den Fuß, um hinterher zu steigen; da sagte der alte
Soldat, der dicht dabei stand: "Sieh, was für schöne Tanzschuhe."
Und Karen konnte es nicht lassen, sie mußte ein paar Tanzschritte
machen! Und als sie angefangen hatte, tanzten die Beine weiter;
es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie bekommen; sie tanzte
um die Kirchenecke herum und konnte nicht wieder aufhören damit;
der Kutscher mußte hinterher laufen und sie festhalten. Er hob
sie in den Wagen; aber die Füße tanzten weiter, so daß sie
die gute alte Dame heftig trat.

Endlich zogen sie ihr die Schuhe ab, und die Beine kamen zur Ruhe.

Daheim wurden die Schuhe in den Schrank gesetzt, aber Karen
konnte sich nicht enthalten, sie immer von neuem anzusehen.

Nun wurde die alte Frau krank, und es hieß, daß sie nicht mehr lange zu
leben hätte. Sie sollte sorgsam gepflegt und gewartet werden, und niemand
stand ihr ja näher als Karen. Aber in der Stadt war ein großer
Ball und Karen war auch dazu eingeladen. Sie schaute die alte
Frau an, die ja doch nicht wieder gesund wurde, sie schaute auf die roten
Schuhe, und das schien ihr keine Sünde zu sein. - Da zog sie die roten
Schuhe an - das konnte sie wohl auch ruhig tun!
- aber dann ging sie auf den Ball und fing an zu tanzen.

Doch als sie nach rechts wollte, tanzten die Schuhe nach links,
und als sie den Saal hinauf tanzen wollte, tanzten die Schuhe
hinunter, die Treppe hinab, über den Hof durch das Tor aus der Stadt hinaus.
Tanzen tat sie, und tanzen mußte sie, mitten in den finsteren Wald hinein.

Da leuchtete es zwischen den Bäumen oben, und sie glaubte,
daß es der Mond wäre; denn es sah aus wie ein Gesicht. Es war jedoch der alte
Soldat mit dem roten Barte. Er saß und nickte und sprach:
"Sieh, was für hübsche Tanzschuhe."

Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe fortwerfen; aber sie
hingen fest. Sie riß ihre Strümpfe ab; aber die Schuhe waren an ihren
Füßen festgewachsen. Und tanzen tat sie und tanzen mußte sie über Feld und
Wiesen, in Regen und Sonnenschein, bei Tage und bei
Nacht; aber in der Nacht war es zum Entsetzen.

Sie tanzte zum offenen Kirchhofe hinein, aber die Toten dort tanzten
nicht; sie hatten weit Besseres zu tun als zu tanzen. Sie wollte auf dem Grabe
eines Armen niedersitzen, wo bitteres Farnkraut grünte, aber für sie gab es
weder Rast noch Ruhe. Und als sie auf die offene Kirchentür zutanzte, sah
sie dort einen Engel in langen weißen Kleidern; seine Schwingen reichten
von seinen Schultern bis zur Erde nieder. Sein Gesicht war strenge
und ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und leuchtend:

"Tanzen sollst Du", sagte er, "tanzen auf Deinen roten Schuhen,
bist Du bleich und kalt bist, bis Deine Haut über dem Gerippe
zusammengeschrumpft ist. Tanzen sollst Du von Tür zu Tür,
und wo stolze, eitle Kinder wohnen, sollst Du anpochen, daß sie
Dich hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen." "Gnade!" rief Karen.
Aber sie hörte nicht mehr, was der Engel antwortete, denn die Schuhe
trugen sie durch die Pforte auf das Feld hinaus, über Weg und über
Steg, und immer mußte sie tanzen.

Eines Morgens tanzte sie an einer Tür vorbei, die ihr wohlbekannt war.
Drinnen ertönten Totenpsalmen; ein Sarg wurde herausgetragen, der mit
Blumen geschmückt war. Da wußte sie, daß die alte Frau tot war, und es
kam ihr zum Bewußtsein, daß sie nun von allen verlassen war,
und Gottes Engel hatte sie verflucht.

Tanzen tat sie und tanzen mußte sie, tanzen in der dunkeln Nacht. Die Schuhe
trugen sie dahin über Dorn und Steine, und sie riß sich blutig. Sie tanzte
über die Heide hin bis zu einem kleinen, einsamen Hause. Hier, wußte sie,
wohnte der Scharfrichter, und sie pochte mit dem Finger
an die die Scheibe und sagte:

"Komm heraus - Komm heraus - Ich kann nicht hineinkommen, denn ich tanze."

Und der Scharfrichter sagte: "Du weißt wohl nicht, wer ich bin?
Ich schlage bösen Menschen das Haupt ab, und ich fühle,
daß mein Beil klirrt!"

"Schlag mir nicht das Haupt ab," sagte Karen, "denn dann kann
ich nicht meine Sünde bereuen! Aber haue meine Füße
mit den roten Schuhen ab."

Nun bekannte sie ihre ganze Sünde, und der Scharfrichter hieb ihr die
Füße mit den roten Schuhen ab: aber die Schuhe tanzten mit
den kleinen Füßchen über das Feld in den tiefen Wald hinein.

Und er schnitzte ihr Holzbeine und Krücken, lehrte sie die Psalmen, die die
armen Sünder singen, und sie küßte die Hand, die die Axt
geführt hatte, und ging von dannen über die Heide.

"Nun habe ich genug um die roten Schuhe gelitten," sagte sie, "
nun will ich in die Kirche gehen, damit es auch gesehen wird."
Und sie ging, so schnell sie es mit den Holzfüßen konnte, auf die
Kirchentür zu. Als sie aber dorthin kam, tanzten die roten
Schuhe vor ihr her, und sie entsetzte sich und kehrte um.

Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und weinte viele bittere
Tränen. Als es aber Sonntag wurde, sagte sie: "So, nun habe ich
genug gelitten und gestritten. Ich glaube wohl, daß ich ebenso gut
bin wie viele von denen, die in der Kirche sitzen und prahlen!" Und
dann machte sie sich mutig auf. Doch kam sie nicht weiter als bis zur
Pforte; da sah sie die roten Schuhe vor sich hertanzen, und sie
entsetzte sich sehr, kehrte wieder um und
bereute ihre Sünde von ganzem Herzen.

Dann ging sie zum Pfarrhause und bat, ob sie dort Dienst nehmen
dürfe; sie wolle fleißig sein und alles tun, was sie könne; auf Lohn
sehe sie nicht, wenn sie nur ein Dach übers Haupt bekäme und bei guten
Menschen wäre. Und die Pfarrersfrau hatte Mitleid mit ihr und nahm
sie in Dienst. Und sie war fleißig und nachdenklich. Stille saß sie und hörte zu,
wenn am Abend der Pfarrer laut aus der Bibel vorlas. All die Kleinen liebten
sie sehr; aber wenn sie von Putz und Staat sprachen und daß es
herrlich sein müsse, eine Königin zu sein, schüttelte sie mit dem Kopfe.

Am nächsten Sonntag gingen alle zur Kirche, und sie fragten sie,
ob sie mitwolle, aber sie sah betrübt mit Tränen in den Augen
auf ihre Krücken herab, und so gingen die anderen ohne sie fort,
um Gottes Wort zu hören; sie aber ging allein in ihre kleine
Kammer. Die war nicht größer, als daß ein Bett und ein Stuhl darin
stehen konnte, und hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuche hin.
Und als sie mit frommem Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne
aus der Kirche zu ihr herüber, und sie erhob unter
Tränen ihr Antlitz und sagte: "O Gott, hilf mir."

Da schien die Sonne so hell, und gerade vor ihr stand Gottes Engel
in den weißen Kleidern, er, den sie in der Nacht in der Kirchentür
gesehen hatte. Aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern
einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen war. Mit diesem
berührte er die Decke, und sie hob sich empor, und wo er sie berührt
hatte, leuchtete ein goldener Stern. Und er berührte die Wände,
und sie weiteten sich. Nun sah sie die Orgel und hörte ihren
Klang, und sie sah die alten Steinbilder von den Pfarrern und
P farrersfrauen.

Die Gemeinde saß in den geschmückten Stühlen und sang aus
dem Gesangbuch. - Die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen
in die kleine, enge Kammer gekommen, oder war sie etwa in die Kirche
gekommen? Sie saß im Stuhl bei den anderen aus dem Pfarrhause,
und als der Psalm zuende gesungen war, blickten sie auf und
nickten ihr zu und sagten: "Das war recht, daß Du kamst, Karen."

"Es war Gnade" sagte sie.

Und die Orgel klang, und die Kinderstimmen im Chor ertönten sanft
und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch die Fenster
in den Kirchenstuhl, wo Karen saß; ihr Herz war so voll Sonnenschein,
Frieden und Freude, daß es brach. Ihre Seele flog mit dem Sonnenschein
auf zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.

(Hans Christian Andersen)

Die sieben Raben

Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch keine Tochter, so
sehr er sich's auch wünschte; endlich gab ihm seine Frau zu
verstehen, wieder guter Hoffnung zu sein, und wie es zur Welt kam,
war es auch ein Mädchen. Die Freude war groß, aber das Kind war
schmächtig und klein, und sollte wegen seiner Schwäch die Nottaufe
bekommen. Der Vater schickte einen der Knaben eilends zur Quelle,
Taufwasser zu holen: die andern sechs liefen mit, und weil jeder der
erste beim Schöpfen sein wollte, so fiel ihnen der Krug in den
Brunnen. Da standen sie und wussten nicht, was sie tun sollten, und
keiner getraute sich heim. Als sie immer nicht zurückkamen, ward der
Vater ungeduldig und sprach: "Gewiss haben sie's wieder über ein
Spiel vergessen, die gottlosen Jungen."
Es ward ihm angst, das Mädchen müsste ungetauft verscheiden, und
im Ärger rief er; "'Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden."'
Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über
seinem Haupt in der Luft, blickte in die Höhe und sah sieben
kohlschwarze Raben auf- und davonfliegen.

Die Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und
so traurig sie über den Verlust ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie
sich doch einigermaßen durch ihr liebes Töchterchen, das bald zu
Kräften kam, und mit jedem Tage schöner ward. Es wusste lange Zeit
nicht einmal, dass es Geschwister gehabt hatte, denn die Eltern
hüteten sich, ihrer zu erwähnen, bis es eines Tags von ungefähr die
Leute von sich sprechen hörte, das Mädchen wäre wohl schön, aber
doch eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben Brüder.
Da ward es ganz betrübt, ging zu Vater und Mutter und fragte, ob es
denn Brüder gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären.
Nun durften die Eltern das Geheimnis nicht länger verschweigen,
sagten jedoch, es sei so des Himmels Verhängnis und seine Geburt
nur der unschuldige Anlass gewesen.
Allein das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und
glaubte, es müsste seine Geschwister wieder erlösen.
Es hatte keine Ruhe und Rast, bis es sich heimlich aufmachte und in
die weite Welt ging, seine Brüder irgendwo aufzuspüren und zu
befreien, koste es, was es wolle.
Es nahm nichts mit sich als ein Ringlein von seinen Eltern zum
Andenken, einen Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für
den Durst und ein Stühlchen für die Müdigkeit.

Nun ging es immerzu, weit weit, bis an der Welt Ende.
Da kam es zur Sonne, aber die war zu heiß und fürchterlich, und fraß
die kleinen Kinder. Eilig lief es weg und lief hin zu dem Mond, aber der
war gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte,
sprach er: "Ich rieche rieche Menschenfleisch!"'
Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Sternen, die waren
ihm freundlich und gut, und jeder saß auf seinem besondern
Stühlchen. Der Morgenstern aber stand auf, gab ihm ein
Hinkelbeinchen und sprach 'wenn du das Beinchen nicht hast, kannst
du den Glasberg nicht aufschließen, und in dem Glasberg, da sind
deine Brüder.'

Das Mädchen nahm das Beinchen, wickelte es wohl in ein Tüchlein,
und ging wieder fort, so lange, bis es an den Glasberg kam. Das Tor
war verschlossen und es wollte das Beinchen hervorholen, aber wie
es das Tüchlein aufmachte, so war es leer, und es hatte das
Geschenk der guten Sterne verloren. Was sollte es nun anfangen?
seine Brüder wollte es retten und hatte keinen Schlüssel zum
Glasberg. Das gute Schwesterchen nahm ein Messer, schnitt sich ein
kleines Fingerchen ab, steckte es in das Tor und schloss glücklich
auf. Als es eingegangen war, kam ihm ein Zwerglein entgegen, das
sprach 'mein Kind, was suchst du?' 'Ich suche meine Brüder, die
sieben Raben,' antwortete es. Der Zwerg sprach 'die Herren Raben
sind nicht zu Haus, aber willst du hier so lang warten, bis sie kommen,
so tritt ein.' Darauf trug das Zwerglein die Speise der Raben herein
auf sieben Tellerchen und in sieben Becherchen, und von jedem
Tellerchen aß das Schwesterchen ein Bröckchen, und aus jedem
Becherchen trank es ein SchIückchen; in das letzte Becherchen aber
ließ es das Ringlein fallen, das es mitgenommen hatte.

Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da
sprach das Zwerglein 'jetzt kommen die Herren Raben heim geflogen.'
Da kamen sie, wollten essen und trinken, und suchten ihre Tellerchen
und Becherchen. Da sprach einer nach dem andern 'wer hat von
meinem Tellerchen gegessen? wer hat aus meinem Becherchen
getrunken? das ist eines Menschen Mund gewesen.' Und wie der
siebente auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein
entgegen. Da sah er es an und erkannte, dass es ein Ring von Vater
und Mutter war, und sprach 'Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da,
so wären wir erlöst.' Wie das Mädchen, das hinter der Türe stand und
lauschte, den Wunsch hörte, so trat es hervor, und da bekamen alle
die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Und sie herzten und
küssten einander, und zogen fröhlich heim.

(Gebrüder Grimm)

Jorinde und Joringel

Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen dicken Wald,
darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin.
Am Tage machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule,
des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet.
Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete
sie, kochte und briet es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloss
nahe kam, so musste er stillstehen und konnte sich nicht von der
Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach; wenn aber eine keusche
Jungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in
einen Vogel und sperrte sie dann in einen Korb ein und trug den
Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend
solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse.
Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Jorinde; sie war schöner
als alle andere Mädchen. Die und dann ein gar schöner Jüngling
namens Joringel hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den
Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.
Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten,
gingen sie in den Wald spazieren. "Hüte dich", sagte Joringel, "
daß du nicht so nahe ans Schloß kommst." Es war ein schöner Abend, die
Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle
Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich
auf den alten Maibuchen.
Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und
klagte: Joringel klagte auch. Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten
sterben sollen; sie sahen sich um, waren irre und wußten nicht, wohin
sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem
Berg, und halb war sie unter. Joringel sah durchs Gebüsch und sah
die alte Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und wurde
todbang. Jorinde sang:
"Mein Vöglein mit dem Ringlein rot singt Leide, Leide, Leide:
es singt dem Täubelein seinen Tod, singt Leide, Lei - zicküth, zicküth, zicküth. "

Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt,
die sang zicküth, zicküth. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog
dreimal um sie herum und schrie dreimal schu, hu, hu, hu.
Joringel konnte sich nicht regen.- er stand da wie ein Stein, konnte
nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne
unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte
krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager: große rote
Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte.
Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort.
Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall
war fort. Endlich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme:
"Grüß dich, Zachiel, wenn's Möndel ins Körbel scheint, bind lose
Zachiel, zu guter Stund." Da wurde Joringel los. Er fiel vor dem Weib
auf die Knie und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wiedergeben,
aber sie sagte, er sollte sie nie wiederhaben, und ging fort.
Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. "Uu, was soll mir geschehen?"
Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da hütete er die
Schafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht
zu nahe dabei. Endlich träumte er einmal des Nachts, er fände eine blutrote
Blume, in deren Mitte eine schöne große Perle war. Die Blume brach er
ab, ging damit zum Schlosse: alles, was er mit der Blume berührte, ward von
der Zauberei frei; auch träumte er, er hätte seine
Jorinde dadurch wiederbekommen.

Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Tal zu
suchen, ob er eine solche Blume fände; er suchte bis an den
neunten Tag, da fand er die blutrote Blume am Morgen früh. In der
Mitte war ein großer Tautropfe, so groß wie die schönste Perle.
Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Wie er auf hundert
Schritt nahe bis zum Schloß kam, da ward er nicht fest, sondern ging
fort bis ans Tor. Joringel freute sich hoch, berührte die Pforte
mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, durch den
Hof, horchte, wo er die vielen Vögel vernähme; endlich hörte er's.
Er ging und fand den Saal, darauf war die Zauberin und fütterte die
Vögel in den siebentausend Körben. Wie sie den Joringel sah, ward
sie bös, sehr bös, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnte
auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht an sie und
ging, besah die Körbe mit den Vögeln; da waren aber viele hundert
Nachtigallen, wie sollte er nun seine Jorinde wiederfinden?

Indem er so zusah, [merkte er,] daß die Alte heimlich ein Körbchen
mit einem Vogel wegnahm und damit nach der Türe ging. Flugs sprang
er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume und auch das alte Weib-
nun konnte sie nichts mehr zaubern, und Jorinde stand da, hatte ihn
um den Hals gefaßt, so schön, wie sie ehemals war. Da machte er auch
alle die andern Vögel wieder zu Jungfrauen, und da ging
er mit seiner Jorinde nach Hause, und sie lebten lange
vergnügt zusammen

(Gebrüder Grimm)

Das Schneeglöckchen

Es ist Winterszeit, die Luft kalt, der Wind scharf, aber zu Hause ist es
warm und gut; zu Hause lag die Blume, sie lag in ihrer
Zwiebel unter Erde und Schnee.

Eines Tages fiel Regen. Die Tropfen drangen durch die Schneedecke
in die Erde hinab, rührten die Blumenzwiebel an und meldeten von der
Lichtwelt über ihnen. Bald drang auch der Sonnenstrahl fein und
bohrend durch den Schnee, bis zur Zwiebel hinab und stach sie.

"Herein!" sagte die Blume.

"Das kann ich nicht", sagte der Sonnenstrahl, "ich bin nicht stark
genug, um aufzumachen; ich bekomme erst im Sommer Kraft."

"Wann ist es Sommer?" fragte die Blume, und das wiederholte
sie, so oft ein neuer Sonnenstrahl hinabdrang. Aber es war noch weit
bis zur Sommerzeit. Noch lag der Schnee, und das
Wasser gefror zu Eis - jede einzige Nacht.

"Wie lange das doch dauert! Wie lange!" sagte die Blume. "Ich fühle ein
Kribbeln und Krabbeln, ich muß mich recken; ich muß mich strecken.
Ich muß aufschließen, ich muß hinaus, dem Sommer einen
'Guten Morgen' zunicken; das wird eine glückselige Zeit!"

Und die Blume reckte sich und streckte sich drinnen gegen die dünne Schale,
die das Wasser von außen her weich gemacht, die der Schnee und die Erde
gewärmt und in die der Sonnenstrahl hineingestochen hatte. Sie schoß
unter dem Schnee empor mit einer weißgrünen Knospe auf dem
grünen Stengel, mit schmalen, dicken Blättern, die sie gleichsam
beschützen wollten. Der Schnee war kalt, aber vom Lichte
durchstrahlt, dazu so leicht zu durchbrechen, und
hier traf sie auch der Sonnenstrahl mit stärkerer
Macht als zuvor.

"Willkommen! Willkommen!" sang und klang jeder Strahl, und die Blume
erhob sich über den Schnee in die Welt des Lichtes hinaus.
Die Sonnenstrahlen streichelten und küßten sie, bis sie sich ganz öffnete,
weiß wie Schnee und mit grünen Streifen geputzt.
Sie beugte ihr Haupt in Freude und Demut.

"Liebliche Blume!" sang der Sonnenstrahl. "Wie frisch und leuchtend
du bist! Du bist die erste, du bist die einzige, du bist
unsere Liebe! Du läutest den Sommer ein, den schönen
Sommer über Land und Stadt! Aller Schnee soll schmelzen,
der kalte Wind wird fortgejagt! Wir werden gebieten.
Alles wird grünen! Und dann bekommst du Gesellschaft,
Flieder und Goldregen und zuletzt die Rosen;
aber du bist die erste, so fein und leuchtend!"

Das war eine große Freude. Es war, als sänge und klänge die
Luft, als drängen die Strahlen des Lichts in ihre Blätter und Stengel.
Da stand sie, fein und leicht zerbrechlich und doch so
kräftig in ihrer jungen Schönheit. Sie stand in weißem Gewande
mit grünen Bändern und pries den Sommer. aber es war noch
lang bis zur Sommerzeit, Wolken verbargen die
Sonne, scharfe Winde bliesen über sie hin.

"Du bist ein bißchen zu zeitig gekommen", sagten Wind und Wetter.
"Wir haben noch die Macht. Die bekommst du zu fühlen und
mußt dich dreinfinden. Du hättest zu Hause bleiben und nicht ausgehen
sollen, um Staat zu machen; dazu ist es noch nicht die Zeit."

Es war schneidend kalt. Die Tage, die nun kamen, brachten nicht
einen einzigen Sonnenstrahl; es war ein Wetter, um in Stücke
zu frieren, besonders für eine so zarte, kleine Blume. Aber sie trug mehr Stärke
in sich, als sie selber wußte. Freude und Glauben an den Sommer machten
sie stark, er mußte ja kommen; er war ihr von ihrer tiefen Sehnsucht
verkündet und von dem warmen Sonnenlichte bestätigt worden.
So stand sie voller Hoffnung in ihrer weißen Pracht, in dem weißen
Schnee und beugte ihr Haupt, wenn die Schneeflocken
herabfielen, während die eisigen Winde über sie dahinfuhren.

"Du brichst entzwei!" sagten sie. "Verwelke, Erfriere! Was willst
du hier draußen! Weshalb ließest du dich verlocken! Die
Sonnenstrahlen haben dich genarrt!
Nun sollst du es gut haben, du Sommernarr!"

"Sommernarr!" schallte es durch den kalten Morgen, den
"Sommernarr" heißt im Dänischen das Schneeglöckchen.
"Sommernarr" jubelten ein paar Kinder, die in den
Garten hinabkamen. "Da steht einer, so
lieblich, so schön, der erste, der einzige!"

Und die Worte taten der Blume so wohl, es waren Worte wie warme
Sonnenstrahlen. Die Blume fühlte in ihrer Freude nicht einmal,
daß sie gepflückt wurde. Sie lag in einer Kinderhand, wurde
von einem Kindermund geküßt und hinein in die warme Stube
gebracht, von milden Augen angeschaut, in Wasser gestellt,
so stärkend, so belebend. Die Blume glaubte, daß sie mit einem
Male mitten in den Sommer hineingekommen wäre.

Die Tochter des Hauses, ein niedliches kleines Mädchen, war eben
konfirmiert; sie hatte einen lieben kleinen Freund, der auch
konfirmiert worden war; nun arbeitete er auf eine feste Stellung hin.
"Es soll mein Sommernarr sein!" sagte sie. Dann nahm sie die feine
Blume, legte sie in ein duftendes Stück Papier, auf dem Verse
geschrieben standen, Verse über die Blume, die mit "Sommernarr"
anfingen und mit "Sommernarr" schlossen, das Ganze war eine
zärtliche Neckerei. Nun wurde alles in den Umschlag gelegt, die Blume
lag darin, und es war dunkel um sie her, dunkel wie damals,
als die noch in der Zwiebel lag. So kam die Blume auf Reisen, lag im
Postsack, wurde gedrückt und gestoßen; das war
nicht behaglich. Aber es nahm ein Ende.

Die Reise war vorbei, der Brief wurde geöffnet und von dem lieben
Freunde gelesen. Er war so erfreut, daß er die Blume küßte, und dann
wurde sie mit den Versen zusammen in einen Schubkasten gelegt,
worin noch mehr solcher schönen Briefe lagen, aber alle ohne
Blume; sie war die erste, die einzige, wie die Sonnenstrahlen sie genannt
hatten, und darüber nachzudenken war schön.

Sie durfte auch lange darüber nachdenken, sie dachte, während der Sommer
verging und der lange Winter verging, und als es wieder Sommer wurde, wurde
sie wieder hervorgenommen. Aber da war der junge Mann gar nicht froh.
Er faßte das Papier hart an und warf die Verse hin, daß die Blume zu Boden
fiel. Flachgepreßt und trocken war sie ja, aber deshalb hätte sie doch nicht
auf den Boden geworfen werden müssen; doch dort lag sie besser als im Feuer,
wo die Ferse und Briefe aufloderten. Was war geschehen? - Was so oft geschieht.
Die Blume hatte ihn genarrt, es war ein Scherz; die Jungfrau hatte ihn genarrt;
das war kein Scherz, sie hatte sich einen anderen Freund
im schönen Sommer erkoren.

Am Morgen schien die Sonne auf den flachgedrückten kleinen
Sommernarren herab, der aussah, als sei er auf den Boden gemalt.
Das Mädchen, das auskehrte, nahm ihn auf und legte ihn in eins
der Bücher auf dem Tische, weil sie glaubte, daß er dort herausgefallen
sei, als die aufräumte und das Zimmer in Ordnung brachte. Und die
Blume lag wieder zwischen Versen, gedruckten Versen und die
sind viel vornehmer als die geschriebenen.
wenigsten haben sie mehr gekostet.

So vergingen Jahre. Das Buch stand auf dem Bücherbrett. Nun wurde es
hervorgeholt, geöffnet und gelesen. Es war ein gutes Buch, Verse und
Lieder, die er wert sind, gekannt zu werden. Und der Mann,
der das Buch las, wandte das Blatt um. "Da liegt ja eine Blume", sagte er,
"ein Sommernarr! Es hat wohl seine Bedeutung, daß er gerade
hierhergelegt worden ist. Ja, liege als Zeichen
hier im Buche, kleiner Sommernarr!"

Und so wurde das Schneeglöckchen wieder ins Buch gelegt
und fühlte sichbeehrt und erfreut, daß es als Zeichen von
Bedeutung im Buche liegenbleiben sollte.

Das ist das Märchen vom Schneeglöckchen,
dem Sommernarren.

(Hans Christian Andersen)

Schneeweißchen und Rosenrot

Eine arme Witwe, die lebte einsam in einem Hüttchen
und vor dem Hüttchen war ein
Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen,
davon trug das eine weiße, das andere
rote Rosen; und sie hatte zwei Kinder
die glichen den beiden Rosenbäumchen, und
das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenrot.
Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen
als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind:
Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot.
Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher
suchte Blumen und fing Sommervögel;
Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter
half ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war.
Die beiden Kinder hatten einander so lieb
daß sie sich immer an den Händen faßten, sooft sie zusammen ausgingen;
und wenn Schneeweißchen sagte:
"Wir wollen uns nicht verlassen"
so antwortete Rosenrot:
"Solange wir leben, nicht"
und die Mutter setzte hinzu:
"Was das eine hat, soll's mit dem andern teilen."

Oft liefen sie im Walde allein umher und sammelten rote Beeren,
aber kein Tier tat ihnen etwas zuleid, sondern sie kamen vertraulich herbei:
das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen,
das Reh graste an ihrer Seite
der Hirsch sprang ganz lustig vorbei, und die Vögel blieben auf den Ästen sitzen
und sangen, was sie nur wußten.
Kein Unfall traf sie - wenn sie sich im Walde verspätet hatten
und die Nacht sie überfiel
so legten sie sich nebeneinander auf das Moos und schliefen,
bis der Morgen kam, und die Mutter wußte das und hatte ihretwegen keine Sorge.
Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten und das Morgenrot sie aufweckte,
da sahen sie ein schönes Kind in einem weißen, glänzenden Kleidchen
neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf und blickte sie ganz freundlich an,
sprach aber nichts und ging in den Wald hinein.
Und als sie sich umsahen
so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrunde geschlafen
und wären gewiß hineingefallen
wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weitergegangen wären.
Die Mutter aber sagte ihnen, das müßte der Engel gewesen sein
der gute Kinder bewache.
Schneeweißchen und Rosenrot
hielten das Hüttchen der Mutter so reinlich,
daß es eine Freude war hineinzuschauen.
Im Sommer besorgte Rosenrot das Haus
und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe sie aufwachte
einen Blumenstrauß vors Bett,
darin war von jedem Bäumchen eine Rose.
Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an
und hing den Kessel an den Feuerhaken, und der Kessel war von Messing,
glänzte aber wie Gold, so rein war er gescheuert.
Abends, wenn die Flocken fielen,
sagte die Mutter: "Geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor"
, und dann setzten sie sich an den Herd
und die Mutter nahm die Brille und las aus einem großen Buche vor
und die beiden Mädchen hörten zu, saßen und spannen;
neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf
einer Stange saß ein weißes Täubchen und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.

Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen saßen, klopfte jemand an die Türe
als wollte er eingelassen sein. Die Mutter sprach:
"Geschwind, Rosenrot, mach auf, es wird ein Wanderer sein, der Obdach sucht."
Rosenrot ging und schob den Riegel weg
und dachte, es wäre ein armer Mann, aber der war es nicht,
es war ein Bär, der seinen dicken schwarzen Kopf zur Türe hereinstreckte.
Rosenrot schrie laut und sprang zurück: das Lämmchen blökte,
das Täubchen flatterte auf und
Schneeweißchen versteckte sich hinter der Mutter Bett.
Der Bär aber fing an zu sprechen und sagte:
"Fürchtet euch nicht, ich tue euch nichts zuleid;
ich bin halb erfroren und will mich nur ein wenig bei euch wärmen."
"Du armer Bär", sprach die Mutter
"leg dich ans Feuer und gib nur acht, daß dir dein Pelz nicht brennt."
Dann rief sie:
"Schneeweißchen, Rosenrot,
kommt hervor, der Bär tut euch nichts
er meint's ehrlich."
Da kamen sie beide heran
und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen
und hatten keine Furcht vor ihm.
Der Bär sprach:
"Ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelzwerk"
und sie holten den Besen und kehrten dem Bär das Fell rein;
er aber streckte sich ans Feuer und brummte ganz vergnügt und behaglich.

Nicht lange, so wurden sie ganz vertraut
und trieben Mutwillen mit dem unbeholfenen Gast.
Sie zausten ihm das Fell mit den Händen
setzten ihre Füßchen auf seinen Rücken und walgerten ihn hin und her
oder sie nahmen eine Haselrute und schlugen auf ihn los,
und wenn er brummte, so lachten sie. Der Bär ließ
sich's aber gerne gefallen, nur wenn sie's gar zu arg machten, rief er:
"Laßt mich am Leben, ihr Kinder"

Als Schlafenszeit war und die andern zu Bett gingen
sagte die Mutter zu dem Bär:
"Du kannst in Gottes Namen da am Herde liegenbleiben,
so bist du vor der Kälte und dem bösen Wetter geschützt."
Sobald der Tag graute, ließen ihn die beiden Kinder hinaus,
und er trabte über den Schnee in den Wald hinein.
Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde
legte sich an den Herd und erlaubte den Kindern, Kurzweil mit ihm zu treiben
soviel sie wollten; und sie waren so gewöhnt an ihn
daß die Türe nicht eher zugeriegelt ward, als bis der schwarze Gesell angelangt war.

Als das Frühjahr herangekommen und draußen alles grün war,
sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen:
"Nun muß ich fort und darf den ganzen Sommer nicht wiederkommen."
"Wo gehst du denn hin, lieber Bär?"fragte Schneeweißchen.
"Ich muß in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten:
im Winter, wenn die Erde hartgefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben
und können sich nicht durcharbeiten, aber jetzt
wenn die Sonne die Erde aufgetaut und erwärmt hat
da brechen sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen;
was einmal in ihren Händen ist
und in ihren Höhlen liegt,
das kommt so leicht nicht wieder an des Tages Licht."
Schneeweißchen war ganz traurig über den Abschied
und als es ihm die Türe aufriegelte und der Bär sich hinausdrängte
blieb er an dem Türhaken hängen, und ein Stück seiner Haut riß auf
und da war es Schneeweißchen, als hätte es Gold durchschimmern gesehen;
aber es war seiner Sache nicht gewiß.
Der Bär lief eilig fort und war bald hinter den Bäumen verschwunden.

Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald, Reisig zu sammeln.
Da fanden sie draußen einen großen Baum, der lag gefällt auf dem Boden
und an dem Stamme sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab
sie konnten aber nicht unterscheiden, was es war.
Als sie näher kamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten, verwelkten Gesicht
und einem ellenlangen, schneeweißen Bart.
Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baums eingeklemmt
und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Seil
und wußte nicht, wie er sich helfen sollte.
Er glotzte die Mädchen mit seinen roten feurigen Augen an und schrie.
"Was steht ihr da! Könnt ihr nicht herbeigehen und mir Beistand leisten?"

"Was hast du angefangen, kleines Männchen?" fragte Rosenrot.
"Dumme, neugierige Gans", antwortete der Zwerg
den Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz in der Küche zu haben;
bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das bißchen Speise,
das unsereiner braucht, der nicht so viel hinunterschlingt als ihr
grobes, gieriges Volk. Ich hatte den Keil schon glücklich hineingetrieben
und es wäre alles nach Wunsch gegangen,
aber das verwünschte Holz war zu glatt und sprang unversehens heraus
und der Baum fuhr so geschwind zusammen
daß ich meinen schönen weißen Bart nicht mehr herausziehen konnte;
nun steckt er drin, und ich kann nicht fort.
Da lachen die albernen glatten Milchgesichter! Pfui, was seid ihr garstig!"
Die Kinder gaben sich alle Mühe,
aber sie konnten den Bart nicht herausziehen
er steckte zu fest.

"Ich will laufen und Leute herbeiholen", sagte Rosenrot.
"Wahnsinnige Schafsköpfe", schnarrte der Zwerg,
"wer wird gleich Leute herbeirufen, ihr seid mir schon um zwei zu viel;
fällt euch nicht Besseres ein?"
"Sei nur nicht ungeduldig", sagte Schneeweißchen
"ich will schon Rat schaffen"
holte sein Scherchen aus der Tasche und schnitt das Ende des Bartes ab.
Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack
der zwischen den Wurzeln des Baums steckte und mit Gold gefüllt war
hob ihn heraus und brummte vor sich hin:
"Ungehobeltes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab!
Lohn's euch der Kuckuck!"
Damit schwang er seinen Sack auf den Rücken und ging fort
ohne die Kinder nur noch einmal anzusehen.
Einige Zeit danach wollten
Schneeweißchen und Rosenrot
ein Gericht Fische angeln.
Als sie nahe bei dem Bach waren, sahen sie
daß etwas wie eine große Heuschrecke
nach dem Wasser zuhüpfte, als wollte es hineinspringen.
Sie liefen heran und erkannten den Zwerg.
"Wo willst du hin?" sagte Rosenrot, "du willst doch nicht ins Wasser?"
"Solch ein Narr bin ich nicht", schrie der Zwerg
"seht ihr nicht, der verwünschte Fisch will mich hineinziehen?"
Der Kleine hatte dagesessen und geangelt
und unglücklicherweise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten;
als gleich darauf ein großer Fisch anbiß,
fehlten dem schwachen Geschöpf die Kräfte, ihn herauszuziehen:
der Fisch behielt die Oberhand und riß den Zwerg zu sich hin.
Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel,
er mußte den Bewegungen des Fisches folgen
und war in beständiger Gefahr
ins Wasser gezogen zu werden.
Die Mädchen kamen zu rechter Zeit, hielten ihn fest und versuchten
den Bart von der Schnur loszumachen, aber vergebens,
Bart und Schnur waren fest ineinander verwirrt.
Es blieb nichts übrig, als das Scherchen hervorzuholen
und den Bart abzuschneiden, wobei ein kleiner Teil desselben verlorenging.
Als der Zwerg das sah, schrie er sie an:"
"Ist das Manier, ihr Lorche, einem das Gesicht zu schänden?
Nicht genug, daß ihr mir den Bart unten abgestutzt habt
jetzt schneidet ihr mir den besten Teil davon ab:
ich darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen lassen.
Daß ihr laufen müßtet und die Schuhsohlen verloren hättet!"
Dann holte er einen Sack Perlen
der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen
schleppte er ihn fort und verschwand hinter einem Stein.

Es trug sich zu, daß bald hernach die Mutter
die beiden Mädchen nach der Stadt schickte,
Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen.
Der Weg führte sie über eine Heide
auf der hier und da mächtige Felsenstücke zerstreut lagen.
Da sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben
der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herabsenkte
und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß.
Gleich darauf hörten sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei.
Sie liefen herzu und sahen mit Schrecken,
daß der Adler ihren alten Bekannten
den Zwerg, gepackt hatte und ihn forttragen wollte.
Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest und zerrten
sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahrenließ.
Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte
schrie er mit einer kreischenden Stimme:
"Konntet ihr nicht säuberlicher mit mir umgehen?
Gerissen habt ihr an meinem dünnen Röckchen
daß es überall zerfetzt und durchlöchert ist
unbeholfenes und läppisches Gesindel, das ihr seid!"
Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen
und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle.
Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort
und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt.

Als sie beim Heimweg wieder auf die Heide kamen
überraschten sie den Zwerg
der auf einem reinlichen Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet
und nicht gedacht hatte, daß so spät noch jemand daherkommen würde.
Die Abendsonne schien über die glänzenden Steine,
sie schimmerten und leuchteten so prächtig in allen Farben
daß die Kinder stehen blieben und sie betrachteten.
"Was steht ihr da und habt Maulaffen feil!"
schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht ward zinnoberrot vor Zorn.
Er wollte mit seinen Scheltworten fortfahren
als sich ein lautes Brummen hören ließ
und ein schwarzer Bär aus dem Walde herbeitrabte.
Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen;
der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst:
"Lieber Herr Bär, verschont mich, ich will Euch alle meine Schätze geben
sehet, die schönen Edelsteine, die da liegen.
Schenkt mir das Leben, was habt Ihr an mir kleinen, schmächtigen Kerl?
Ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen;
da, die beiden gottlosen Mädchen packt,
das sind für Euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die freßt in Gottes Namen."
Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht,
gab dem boshaften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze
und es regte sich nicht mehr.

Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach:
"Schneeweißchen und Rosenrot
fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen."
Da erkannten sie seine Stimme und blieben stehen
und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab
und er stand da als ein schöner Mann und war ganz in Gold gekleidet.

"Ich bin eines Königs Sohn" sprach er, "und war von dem gottlosen Zwerg
der mir meine Schätze gestohlen hatte, verwünscht
als ein wilder Bär in dem Walde zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlöst würde.
Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen."

Schneeweißchen ward mit ihm vermählt und Rosenrot mit seinem Bruder
und sie teilten die großen Schätze miteinander
die der Zwerg in seiner Höhle zusammengetragen hatte.
Die alte Mutter lebte noch lange Jahre ruhig und glücklich bei ihren Kindern.
Die zwei Rosenbäumchen aber nahm sie mit
und sie standen vor ihrem Fenster und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen
weiße und rote.

(Gebrüder Grimm)

Brüderchen und Schwesterchen

Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach:
"Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr;
die Stiefmutter schlägt uns alle Tage und stößt uns mit den Füßen fort.
Die harten Brotkrusten, die übrig bleiben, sind unsere Speise,
und dem Hündchen unter dem Tisch geht's besser, dem wirft sie doch
manchmal einen guten Bissen zu. Daß Gott erbarm, wenn das
unsere Mutter wüßte! Komm, wir wollen
miteinander in die weite Welt gehen."

Sie gingen den ganzen Tag, und wenn es regnete, sprach
das Schwesterlein: "Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!"
Abends kamen sie in einen großen Wald und waren so müde
von Jammer, vom Hunger und von dem langen Weg,
daß sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.

Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon
hoch am Himmel und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach
das Brüderchen: "Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich ein
Brünnlein wüßte, ich ging' und tränk'
einmal; ich mein', ich hört' eins rauschen."

Brüderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie
wollten das Brünnlein suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine
Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder
fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie
die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht.

Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über
die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken;
aber das Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen sprach:

"Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger,

wer aus mir trinkt, wird ein Tiger."

Da rief das Schwesterchen: "Ich bitte dich, Brüderchen,
trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreißt mich."
Das Brüderchen trank nicht, obgleich es so großen Durst
hatte, und sprach: "Ich will warten bis zur nächsten Quelle."

Als sie zum zweiten Brünnlein kamen,
hörte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach:

"Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf,

wer aus mir trinkt, wird ein Wolf."

Da rief das Schwesterchen: "Brüderchen, ich bitte dich, trink
nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich."
Das Brüderchen trank nicht und sprach: "Ich will warten, bis wir zur
nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken,
du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar zu groß."

Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte
das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach:

"Wer aus mir trinkt, wird ein Reh,

wer aus mir trinkt, wird ein Reh."

Das Schwesterchen sprach: "Ach, Brüderchen, trink nicht,
sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort." Aber das Brüderchen hatte sich
gleich beim Brünnlein niedergekniet, und von dem Wasser getrunken,
und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen
waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte
Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und Saß so traurig
neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich: "Sei still, liebes
Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen." Dann band es sein
goldenes Strumpfband ab und tat es dem Rehchen um den Hals und
rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das
Tierchen und führte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein.

Und als sie lange, lange gegangen waren, kamen sie endlich
an ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil
es leer war, dachte es: "Hier können wir bleiben und wohnen."
Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen
Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte Wurzeln,
Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes
Gras mit, war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends,
wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte
es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein
Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur
seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre
ein herrliches Leben gewesen.

Das dauerte eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren.
Es trug sich aber zu, daß der König des Landes eine große Jagd
in dem Wald hielt. Da schallte das Hörnerblasen, Hundegebell
und das lustige Geschrei der Jäger durch die Bäume,
und das Rehlein hörte es und wäre gar zu gerne dabeigewesen.

"Ach", sprach es zum Schwesterlein, "laß mich hinaus in die
Jagd, ich kann's nicht länger mehr aushalten", und bat so lange,
bis es einwilligte. "Aber", sprach es zu ihm, "komm mir ja abends
wieder, vor den wilden Jägern schließ' ich mein Türlein; und
damit ich dich kenne, so klopf und sprich: 'Mein Schwesterlein,
laß mich herein!' Und wenn du nicht so sprichst,
so schließ ich mein Türlein nicht auf."

Nun sprang das Rehchen hinaus und es war ihm so wohl und es
war so lustig in freier Luft. Der König und seine Jäger sahen
das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht
einholen, und wenn sie meinten, sie hätten es gewiß, da sprang es
über das Gebüsch weg und war verschwunden. Als es dunkel
ward, lief es zu dem Häuschen, klopfte und sprach: "Mein Schwesterlein,
laß mich herein." Da ward ihm die kleine Tür aufgetan, es sprang
hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus.

Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das
Rehlein wieder das Hifthorn hörte und das "Ho ho!" der Jäger,
da hatte es keine Ruhe und sprach: "Schwesterchen, mach mir
auf, ich muß hinaus." Das Schwesterchen öffnete ihm die
Tür und sprach: "Aber zu Abend mußt du wieder da sein und dein
Sprüchlein sagen." Als der König und seine Jäger das Rehlein
mit dem goldenen Halsband wiedersahen, jagten sie ihm alle nach,
aber es war ihnen zu schnell und behend. Das währte den ganzen
Tag, endlich aber hatten es die Jäger abends umzingelt, und einer
verwundete es ein wenig am Fuß, so daß
es hinken mußte und langsam fortlief.

Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte,
wie es rief: "Mein Schwesterlein, laß mich herein", und sah,
daß die Tür ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen ward.
Der Jäger ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen und
gehört hatte. Da sprach der König
: "Morgen soll noch einmal gejagt werden."

Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, daß
sein Rehkälbchen verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab,
legte Kräuter auf und sprach: "Geh auf dein Lager, lieb Rehchen,
daß du wieder heil wirst." Die Wunde aber war so gering, daß
das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spürte. Und als
es die Jagdlust wieder draußen hörte, sprach es:
"Ich kann's nicht aushalten, ich muß dabeisein!"

Das Schwesterchen weinte und sprach: "Nun werden sie dich töten,
und ich bin hier allein im Wald und bin verlassen
von aller Welt, ich lass' dich nicht hinaus."

"So sterb' ich dir hier vor Betrübnis", antwortete das Rehchen,
"wenn ich das Hifthorn höre, so mein' ich, ich müßt' aus den Schuhen springen!"

Da konnte das Schwesterchen nicht anders und schloß ihm mit
schwerem Herzen die Tür auf, und das Rehchen sprang gesund
und fröhlich in den Wald. Als es der König erblickte, sprach
er zu seinen Jägern: "Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in
die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zuleide tut." Sobald die
Sonne untergegangen war, sprach der König zum Jäger:
"Nun komm und zeige mir das Waldhäuschen." Und als er vor dem
Türlein war, klopfte er an und rief: "Lieb Schwesterlein, laß mich herein."

Da ging die Tür auf, und der König trat herein, und da stand
ein Mädchen, das war so schön, wie er noch keines gesehen hatte.
Das Mädchen erschrak, als es sah, daß ein Mann hereinkam,
der eine goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der König
sah es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach:
"Willst du mit mir gehen auf mein Schloß und meine liebe Frau sein?"

"Ach ja", antwortete das Mädchen, "aber
das Rehchen muß auch mit, das verlass' ich nicht."

Sprach der König: "Es soll bei dir bleiben, solange du lebst,
und es soll ihm an nichts fehlen." Indem kam es hereingesprungen;
da band es das Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es
selbst in die Hand und ging mit ihm aus dem Waldhäuschen fort.
Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte
es in sein Schloß, wo die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert
wurde, und es war nun die Frau Königin, und sie lebten lange
Zeit vergnügt zusammen; das Rehlein ward gehegt
und gepflegt und sprang in dem Schloßgarten herum.

Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt
hineingegangen waren, die meinte nicht anders als, Schwesterchen
wäre von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und
Brüderchen als ein Rehkalb von den Jägern totgeschossen. Als
sie nun hörte, daß sie so glücklich waren und es ihnen so wohlging,
da wurden Neid und Mißgunst in ihrem Herzen rege und ließen
ihr keine Ruhe, wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte.

Ihre rechte Tochter, die häßlich war wie die Nacht und nur ein
Auge hatte, die machte ihr Vorwürfe und sprach:
Eine Königin zu werden, das Glück hätte mir gebührt."

"Sei nur still", sagte die Alte und sprach sie zufrieden,
wenn's Zeit ist, will ich schon bei der Hand sein."

Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein schönes
Knäblein zur Welt gebracht hatte und der König gerade auf der
Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerfrau an,
trat in die Stube, wo die Königin lag, und sprach zu der Kranken:
"Kommt, das Bad ist fertig, das wird Euch wohltun und frische
Kräfte geben; geschwind, eh' es kalt wird." Ihre Tochter war
auch bei der Hand, sie trugen die schwache Königin in die
Badstube und legten sie in die Wanne. Dann schlossen sie die
Türe ab und liefen davon. In der Badstube aber hatten sie
ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß die
schöne junge Königin bald ersticken mußte.

Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine
Haube auf und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie gab
ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Königin; nur das
verlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber
der König nicht merkte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo
sie kein Auge hatte. Am Abend, als er heimkam und hörte, daß
ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte
ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte.
Da rief die Alte geschwind: "Beileibe, laßt die Vorhänge zu, die
Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben." Der König
ging zurück und wußte nicht, daß eine falsche Königin im Bette lag.

Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die
Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß
und allein noch wachte, wie die Tür aufging und die rechte Königin
hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren
Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kisschen,
legte es wieder hinein. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht,
ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm über den Rücken.
Darauf ging sie wieder zur Tür hinaus, und die Kinderfrau fragte
am andern Morgen die Wächter, ob jemand während der
Nacht ins Schloß gegangen wäre, aber sie antworteten: "Nein, wir
haben niemand gesehen." So kam sie viele Nächte und sprach niemals
ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber
sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen.

Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die
Königin in der Nacht an zu reden und sprach:

"Was macht mein Kind?

Was macht mein Reh?

Nun komm' ich noch zweimal

Und dann nimmermehr."

Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder
verschwunden war, ging sie zum König und erzählte ihm alles.
Sprach der König: "Ach Gott, was ist das? Ich will in der nächsten
Nacht bei dem Kinde wachen." Abends ging er in die
Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Königin und sprach:

"Was macht mein Kind?

Was macht mein Reh?

Nun komm' ich noch einmal

Und dann nimmermehr"

und pflegte dann das Kind, wie sie gewöhnlich tat,
ehe sie verschwand. Der König getraute sich nicht, sie
anzureden, aber er wachte auch in
der folgenden Nacht. Sie sprach abermals:

"Was macht mein Kind?

Was macht mein Reh?

Nun komm' ich noch diesmal

Und dann nimmermehr."

Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang
zu ihr und sprach: "Du kannst niemand anders sein als
meine liebe Frau." Da antwortete sie: "Ja, ich bin deine
liebe Frau", und hatte in dem Augenblick durch Gottes
Gnade das Leben wiedererhalten, war frisch, rot und gesund.

Darauf erzählte sie dem König den Frevel, den die böse
Hexe und ihre Tochter an ihr verübt hatten. Der König ließ
beide vor Gericht führen, und es ward ihnen das Urteil gesprochen.
Die Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere
zerrissen, die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll
verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt war, verwandelte
sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche
Gestalt wieder; Schwesterchen und Brüderchen
aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.

(Gebrüder Grimm)

Der linke und der rechte Flügel

Es war einmal ein kleiner Engel im Himmel, der den unwiderstehlichen
Wunsch empfand, sich mit seinen Flügeln nicht nur schützend
über die Menschen zu stellen. Er wollte selber auf ihren Strassen
und Wegen gehen: einer von ihnen werden. Und eines Tages
erblickte er eine eben erblühte Mohnblume. Da schien es dem
jungen Engel, als habe er im Himmel noch nie ein solches Rot gesehen.
Seine Sehnsucht, den feurigen Mohn aus nächster Nähe zu betrachten, wuchs
mit jedem Tag. So trat er vor die Augen Gottes und bat: "Lass mich
bitte auf die Erde; lass mich doch ein Mensch unter Menschen werden!"
Sogleich trat ein weiser Engel hinzu und entgegnete: "Du weißt doch,
dass es auf der Erde nicht nur Sonne und Blumen gibt.

Es hat auch Stürme und Unwetter und allerhand Ungemütliches."
"Ja", erwiderte der kleine Engel, "das weiß ich. Doch sah ich
auch einen Menschen, der hatte die Kraft, einen großen Schirm
auszuspannen, so dass darunter zwei Platz fanden. Und es
schien mir, den beiden könne kein Unwetter etwas antun."
Da lächelte Gott dem kleinen Besserwisser zu. Die Zeit verging,
und eines Tages erschien das junge Wesen erneut vor dem Thron
Gottes: "Ich habe mir noch mehr von der Erde angesehen.
Es drängt mich mehr und mehr hinunter." Wieder trat der
erhabene Engel vor und belehrte: "Weißt du auch, dass
es Nebel und Fröste gibt und eine Unzahl verschiedener
Arten von Glatteis auf der Erde? "Ja sicher", meinte
der kleine Engel, "ich weiß um die Gefahren.

Doch ich sah auch Menschen, die teilten ihre warmen Mäntel,
und andere, die gingen bei Glatteis Arm in Arm."
Erneut lächelte Gott dem himmlischen Erdenträumer zu.
Als dann wieder einige Jahre verstrichen waren,
trat der kleine Engel zum dritten Mal in die Gegenwart
Gottes und flehte: "Bitte, lass mich ein Mensch werden.
Der Mohn blüht dort unten so unbeschreiblich rot. Mein Herz
ist voller Sehnsucht nach diesem Feuer!" Schon wieder trat
der erhabene Schutzengel dazwischen. "Weißt du denn nicht,
wie schnell diese Art von Blumen welkt, dass sie
zerbrechlich und verwundbar sind?" "Bestimmt, und ich
weiß auch um die Sterblichkeit. Trotzdem gibt es kein roteres
Rot in der Welt und in meinem Herzen. Es lässt mir keine
Ruhe mehr." Nun entsprach Gott dem Wunsch des
unruhigen Geistes. Doch gemäß alter Tradition musste
dieser einen seiner beiden Flügel an der Himmelspforte abgeben.

Und so kam es, dass der kleine Engel auf der Erde die Suche
nach seinem feurigen Mohnfeld etwas schwerfällig und
mit Linksdrall begann. Der Weg führte ihn durch die weite
Welt. Ständig wurde er aufgehalten; die Erde schien auf
einmal nur noch aus Stürmen und Ungemütlichem zu bestehen.
Je verzweifelter er suchte, umso mehr Unverständnis und
Ablehnung fand er vor. Niemand wollte mit dem unerfahrenen
Engel gemeinsame Sache machen; keiner spannte für ihn
einen großen Schirm auf, und einen wärmenden Mantel
bekam er schon gar nicht. Waren etwa das flammende
Rot der Mohnblume und all die guten Menschen auf der
Erde bloß eine optische Täuschung aus dem Jenseits
gewesen? Doch das Verlangen war stärker als der Zweifel.

Obwohl es aussichtslos schien, blieb er seiner Suche
entschlossen treu. So gelangte er eines Tages müde
an den Rand eines Abgrundes. In der Ferne entdeckte er,
jenseits eines gewaltigen Flusses, sein ersehntes Mohnfeld.
Ein derart festliches Rot hatte er nun wirklich noch nie gesehen!
Er meinte, das Blut von Mutter Erde vor sich zu haben.
Der alt gewordene kleine Engel weinte vor Freude und
Trauer zugleich. Denn er musste einsehen, dass er diesen
Graben ohne fremde Hilfe niemals würde überqueren können.
Während er vor sich hintrauerte, gesellte sich ein Wanderer
zu ihm, und gemeinsam bestaunten sie den unbeschreiblich
glühenden Horizont. Gezeichnet von den Stürmen des Lebens
überlegte der Engel: "So müsste denn wohl die Farbe der Liebe sein."

"Ja, aber weißt du denn nicht, wie schnell diese Art von Blumen
welkt, dass sie verwundbar und zerbrechlich sind?", hörte der
ehemalige Himmelsbewohner seinen Begleiter flüstern. Und der
Mensch, der einmal ein Engel gewesen war, erinnerte sich
plötzlich an all das, was er einmal selber im Angesichte Gottes
behauptet hatte. "Ja, ich weiß um ihre Sterblichkeit.
Trotzdem gibt es kein roteres Rot in der Welt und in meinen
Herzen. Diese Blumen sind wie die Liebe. Mag das Äußere
auch verwelken, ihr Rot bleibt in meiner Seele." Da blickten
sich die beiden Wanderer ins Gesicht. Sie erkannten den letzten
Funken Himmelslicht in den Augen des Anderen. Und mit einem
Schlag wussten sie, woher sie kamen, wozu sie gewandert und
wohin sie noch unterwegs waren. Sie entdeckten auch, dass
jeder von ihnen bloß einen Flügel besaß. Voller Freude
umarmten sie sich. Ein Wunder geschah: Gemeinsam
konnten sie fliegen, gelangten sogar zum
feurigen Mohnfeld und noch viel weiter...

(Unbekannt)

Das rosa Tütchen

Als ich eines Tages, wie immer traurig, durch den Park schlenderte
und mich auf einer Parkbank nieder ließ, um über alles nachzudenken
was in meinem Leben schief läuft, setzte sich ein kleines Mädchen zu mir.
Sie spürte meine Stimmung und fragte: ´´Warum bist du traurig? ´´
´´Ach`` sagte ich`. Ich habe keine Freude am Leben.
Alle sind gegen mich. Alles läuft schief. Ich habe kein Glück
und ich weiß nicht wie es weiter gehen soll. ´´
``Hm´´ meinte das Mädchen ``Wo hast du den dein rosa Tütchen?
Zeig es mir mal. Ich möchte mal hineinschauen. ´´
``Was für ein rosa Tütchen? ´´ Fragte ich sie verwundert.
``Ich habe nur ein schwarzes Tütchen. ´´
Wortlos reichte ich es ihr.
Vorsichtig öffnete sie mit ihren zarten kleinen Fingern den Verschluss
und sah in mein schwarzes Tütchen hinein. Ich bemerkte wie sie erschrak.
``Es ist ja voller Alpträume, voller Unglück und voller schlimmer Erlebnisse. ´´
``Was soll ich machen? Es ist eben so. Daran kann ich doch nichts ändern. ´´
``Hier nimm´´, meinte das Mädchen und reichte mir ein rosa Tütchen ``sieh hinein´´!
Mit zitternden Händen öffnete ich das rosa Tütchen und konnte sehen dass es voll war
mit Erinnerungen an schöne Momente des Lebens. Und das, obwohl das Mädchen noch so
jung an Jahren ist.
``Wo ist denn dein schwarzes Tütchen? ´´ Fragte ich neugierig.
``Das werfe ich jede Woche in den Müll und kümmere mich nicht weiter drum´´ sagte sie.
``Für mich besteht der Sinn des Lebens darin, meine rosa Tüte voll zu bekommen.
Da stecke ich so viel rein wie möglich. Und immer wenn ich Lust dazu habe
oder ich anfange traurig zu werden, dann öffne ich mein rosa Tütchen und schaue hinein.
Dann geht es mir sofort wieder besser.
Wenn ich einmal alt bin und mein Ende naht,
dann habe ich immer noch mein rosa Tütchen.
Es wird voll sein bis obenhin und ich kann sagen, ja, ich hatte etwas vom Leben.
Mein Leben hatte einen Sinn! ´´
Noch während ich verwundert über ihre Worte nachdachte
gab sie mir einen Kuss auf die Wange und war verschwunden.
Neben mir auf der Bank lag ein rosa Tütchen mit der Aufschrift ``Für Dich´´.
Ich öffnete es zaghaft und warf einen Blick hinein.
Es war fast leer, bis auf einen kleinen zärtlichen Kuss,
den ich von einem kleinen Mädchen auf der Parkbank erhalten hatte.
Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln und mir wurde warm ums Herz.
Glücklich machte ich mich auf den Heimweg, nicht vergessend,
am nächsten Papierkorb mich meines schwarzen Tütchen zu entledigen.
(unbekannt)

Die kleinen Leute von Swabedoo

Vor langer, langer Zeit lebten kleine Leute auf der Erde. Die meisten von ihnen wohnten im
Dorf Swabedoo, und sie nannten sich die Swabedoodahs. Sie waren sehr glücklich und liefen
herum mit einem lächeln bis hinter die Ohren und grüßten jedermann. Was die Swabedoodahs
am meisten liebten, war, einander warme, weiche Pelzchen zu schenken. Ein jeder von ihnen
trug über seiner Schulter einen Beutel und der Beutel war angefüllt mit weichen Pelzchen. So
oft sich Swabedoodahs trafen, gab der eine dem anderen ein Pelzchen. Es ist sehr schön,
einem anderen ein warmes Pelzchen zu schenken. Es sagt dem anderen, daß er etwas
besonderes ist, es ist eine Art zu sagen " Ich mag Dich!" Und ebenso schön ist es, von einem
anderen ein solches Pelzchen zu bekommen. Du spürst, wie warm und flaumig es an deinem
Gesicht ist, und es ist ein wundervolles Gefühl, wenn du es sanft und leicht zu den anderen in
deinen Beutel legst. Du fühlst dich anerkannt und geliebt, wenn jemand dir ein Pelzchen
schenkt, und du möchtest auch gleich etwas Gutes, Schönes tun. Die kleinen Leute von
Swabedoo gaben und bekamen gern weiche, warme Pelzchen, und ihr gemeinsames Leben
war ohne Zweifel sehr glücklich und fröhlich.

Außerhalb des Dorfes, in einer kalten, dunklen Höhle, wohnte ein großer, grüner Kobold.
Eigentlich wollte er gar nicht alleine dort draußen wohnen, und manchmal war er sehr einsam.
Er hatte schon einige Male am Rande des Dorfes gestanden und sich gewünscht, er könnte
dort mitten unter den fröhlichen Swabedoodahs sein - aber er hatte nichts, was er hätte
dazutun können – und das Austauschen von warmen, weichen Pelzchen hielt er für einen
großen Unsinn. Traf er ein mal am Waldrand einen der kleinen Leute, dann knurrte er nur
Unverständliches und lief schnell wieder zurück in seine feuchte, dunkle Höhle.

An einem Abend, als der große, grüne Kobold wieder einmal am Waldrand stand, begegnete
ihm ein freundlicher kleiner Swabedoodah. "Ist heute nicht ein schöner Tag?" fragte der
Kleine lächelnd. Der grüne Kobold zog nur ein grämliches Gesicht und gab keine Antwort.
"Hier nimm, ein warmes, weiches Pelzchen", sagte der kleine, "hier ist ein besonders schönes.
Sicher ist es für Dich bestimmt, sonst hätte ich es lange verschenkt." Aber der Kobold nahm
das Pelzchen nicht. Er sah sich erst nach allen Seiten um. Um sich zu vergewissern, daß auch
keiner ihm zusah oder zuhörte, dann beugte er sich zu dem Kleinen hinunter und flüsterte ihm
ins Ohr: " Du, hör mal, sei nur nicht so großzügig mit Deinen Pelzchen. Weißt Du denn nicht,
daß Du eines Tages kein einziges Pelzchen mehr besitzt, wenn Du sie immer so einfach an
jeden, der Dir über den Weg läuft, verschenkst?" Erstaunt und ein wenig hilflos blickte der
kleine Swabedoodah zu dem Kobold hoch. Der hatte in der Zwischenzeit den Beutel von der
Schulter des Kleinen genommen und ihn geöffnet. Es klang richtig befriedigend, als er sagt:"
Hab ich es nicht gesagt! Kaum mehr als 217 Pelzchen hast Du noch in Deinem Beutel. Also
wenn ich Du wäre: ich würde vorsichtig mit dem verschenken sein!" Damit tappte der Kobold
auf seinen großen, grünen Füßen davon und ließ einen verwirrten und unglücklichen
Swabedoodah am Waldrand zurück. Er war so verwirrt, so unglücklich, daß er gar nicht
darüber nachdachte, daß das, was der Kobold da erzählte, überhaupt nicht sein konnte. Denn
jeder Swabedoodah besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Pelzchen. Schenkte er einem
anderen ein Pelzchen, so bekam er sofort von einem anderen ein Pelzchen, und dies geschah
immer und immer wieder, ein ganzes Leben lang – wie sollten dabei die Pelzchen ausgehen?

Auch der Kobold wußte das – doch er verließ sich auf die Gutgläubigkeit der kleinen Leute.
Und noch auf etwas anderes verließ er sich, etwas, was er an sich selbst entdeckt hatte, und
von dem er wissen wollte, ob es auch in den kleinen Swabedoodahs steckte. So belog er den
kleinen Swabedoodah ganz bewußt, setzte sich in den Eingang seiner Höhle und wartete.

Vor seinem Haus in Swabedoo saß der kleine, verwirrte Swabedoodah und grübelte vor sich
hin. Nicht lange, so kam ein guter Bekannter vorbei, mit dem er schon viele warme, weiche
Pelzchen ausgetauscht hatte. "Wie schön ist dieser Tag!" rief der Freund, griff in seinen
Beutel und gab dem anderen ein Pelzchen. Doch dieser nahm es nicht freudig entgegen,
sondern wehrte mit den Händen ab. "Nein, nein! Behalt es lieber," rief der Kleine, "wer weiß
wie schnell sonst Dein Vorrat abnimmt. Eines Tages stehst Du ohne Pelzchen da!" Der
Freund verstand ihn nicht, zuckte nur mit den Schultern, packte das Pelzchen in seinen Beutel
zurück und ging mit leisem Gruß davon. Aber er nahm verwirrte Gedanken mit, am gleichen
Abend konnte man noch drei mal im Dorf hören, wie ein Swabedoodah zum anderen sagte:
"Es tut mir leid, aber ich habe kein warmes, weiches Pelzchen für Dich. Ich muß darauf
achten, daß sie mir nicht ausgehen."

Am kommenden Tag hatte sich dies alles im ganzen Dorf ausgebreitet. Jedermann begann,
seine Pelzchen aufzuheben. Man verschenkte zwar immer noch ab und zu eines, aber man tat
es erst, nach langer, gründlicher Überlegung und sehr, sehr vorsichtig. Und dann waren es
zumeist nicht die ganz besonders schönen Pelzchen, sondern die mit kleinen Stellen und
schon etwas abgenutzten. Die kleinen Swabedoodahs wurden mißtrauisch. Man begann, sich
argwöhnisch zu beobachten, man dachte darüber nach, ob der andere wirklich ein Pelzchen
wert war. Manche trieben es so weit, daß sie ihre Pelzbeutel nachts unter den Betten
versteckten. Streitigkeiten brachen darüber aus, wieviele Pelzchen der oder der andere besaß.
Und schließlich begannen die Leute warme, weiche Pelzchen gegen Sachen einzutauschen,
anstatt sie einfach zu verschenken. Der Bürgermeister von Swabedoo machte sogar eine
Erhebung, wieviele Pelzchen insgesamt vorhanden waren, ließ dann mitteilen, daß die Anzahl
begrenzt sei und rief die Pelzchen als Tauschmittel aus. Bald stritten sich die kleine Leite
darüber, wieviele Pelzchen eine Übernachtung oder eine Mahlzeit im Hause eines anderen
Wert sein müßte. Wirklich, es gab sogar einige Fälle von Pelzchenraub! An dämmrigen
Abenden fühlte man sich draußen nicht mehr sicher, an den Abenden, an denen früher
Swabedoodahs gern im Park oder auf den Straßen spazieren gegangen waren, um einander zu
grüßen, um sich warme, weiche Pelzchen zu schenken.

Oben am Waldrand saß der große, grüne Kobold, beobachtete alles und rieb sich die Hände.
Das Schlimmste von allem geschah, ein wenig später. An der Gesundheit der kleinen Leute
begann sich etwas zu verändern: Viele beklagten sich über Schmerzen in den Schultern und
im Rücken, und mit der Zeit befiel immer mehr Swabedoodahs eine Krankheit, die
Rückgraterweichung genannt wird. Die kleinen Leute liefen gebückt und in schweren Fällen
bis zum Boden geneigt umher. Die Pelzbeutelchen schleiften auf der Erde. Viele fingen an zu
glauben, daß die Ursache ihrer Krankheit das Gewicht der Beutel sei und daß es besser wäre,
sie im Haus zu lassen und dort einzuschließen. Es dauerte nicht lange, und man konnte kaum
noch einen Swabedoodah mit einem Pelzbeutel auf dem Rücken antreffen.
Der große, grüne Kobold war mit dem Ergebnis seiner Lügen sehr zufrieden. Er hatte
herausfinden wollen, ob die kleinen Leute auch so handeln und fühlen würden wie er selbst,
wenn er, wie das fast immer der Fall war, selbstsüchtige Gedanken hatte. Sie hatten so
gehandelt! Und der Kobold fühlte sich sehr erfolgreich.

Er kam jetzt häufiger einmal in das Dorf der kleinen Leute: Aber niemand grüßte ihn mit
einem Lächeln, niemand bot ihm ein Pelzchen an. Statt dessen wurde er mißtrauisch
angestarrt, genauso, wie sich die kleinen Leute untereinander anstarrten. Dem Kobold gefiel
das gut: Für ihn bedeutete dieses Verhalten, die "wirkliche Welt"!
In Swabedoo ereignete sich mit der Zeit immer schlimmere Dinge. Vielleicht wegen der
Rückgraterweichung, vielleicht aber auch deshalb, weil ihnen niemand mehr ein warmes,
weiches Pelzchen gab – wer weiß es! – starben einige Leute in Swabedoo. Nun war alles
Glück aus dem Dorf verschwunden. Die Trauer war sehr groß.

Als der große, grüne Kobold davon hörte, war er richtig erschrocken. "Das wollte ich nicht"
sagte er zu sich selbst, "das wollte ich bestimmt nicht. Ich wollte ihnen doch nur zeigen, wie
die Welt wirklich ist. Aber ich habe ihnen doch nicht den Tod gewünscht." Er überlegte, was
man nun machen könnte, und es fiel ihm auch etwas ein.
Tief in seiner Höhle hatte der Kobold eine Mine mit kaltem, stacheligen Gestein entdeckt. Er
hatte viele Jahre damit verbracht, die stacheligen Steine aus dem Berg zu graben und sie in
einer Grube einzulagern: Er liebte dieses Gestein, weil es so schön kalt war und so angenehm
prickelte, wenn er es anfaßte. Aber nicht nur das: er liebte dieses Steine auch deshalb, wie sie
alle ihm gehörten und immer, wenn er davor saß und sie ansah, war das Bewußtsein, einen
großen Reichtum zu besitzen, für den Kobold ein schönes, befriedigendes Gefühl.

Doch jetzt als er das Elend der kleinen Swabedoodahs sah, beschloß er, seinen Steinreichtum
mit ihnen zu teilen. ER füllte ungezählte Säckchen mit kalten, stacheligen Steinen, packte die
Säckchen auf einen großen Handkarren und zog damit nach Swabedoo.
Wie froh waren die kleinen Leute, als sie die stacheligen. Kalten Steine sahen! Sie nahmen sie
dankbar an. Nun hatten sie wieder etwas, was sie sich schenken konnten. Nur: wenn sie einem
anderen einen kalten, stacheligen Stein gaben, um ihm zu sagen, daß sie ihn mochten, dann
war in ihrer Hand und auch in der Hand desjenigen, der den Stein bekam, ein unangenehmes,
kaltes Gefühl: Es machte nicht so viel Spaß. Kalte, stachelige Steine zu verschenken wie
warme, weiche Pelzchen. Immer hatte man ein eigenartiges Ziehen im Herzen, wenn man
einen stacheligen Stein bekam. Man war sich nicht ganz sicher, was der Schenkende damit
eigentlich meinte. Der Beschenkte blieb oft verwirrt und mit leicht zerstochenen Fingern
zurück.
So geschah es, nach und nach, immer häufiger, daß ein kleiner Swabedoodah unter sein Bett
kroch, den Beutel mit den warmen, weichen Pelzchen hervorzog, sie an der Sonne auslüftete,
und, wenn einer ihm einen Stein schenkte, ein warmes, weiches Pelzchen dafür zurück gab.
Wie leuchteten dann die Augen des Beschenkten! Ja, mancher lief schnell im sein Haus
zurück, kramte den Pelzbeutel hervor, um auch an Stelle des stacheligen Steines ein Pelzchen
zurückzuschenken. Man warf die Steine nicht fort, o nein Es holten auch nicht alles
Swabedoodahs ihre Pelzbeutel wieder hervor. Die grauen, stacheligen Steingedanken hatte
sich zu fest in den Köpfen der kleinen Leute eingenistet. Man konnte es aus den
Bemerkungen heraushören:

Weiche Pelzchen? Was steckt wohl dahinter?

Wie kann ich wissen, ob meine Pelzchen wirklich erwünscht sind?

Ich gab ein warmes, weiches Pelzchen, und was bekam ich dafür? Einen kalten, stachligen
Stein! Das soll mir nicht noch einmal passieren.

Man weiß nie, woran man ist: heute Pelzchen, morgen Steine.

Wahrscheinlich wären wohl alle kleinen Leute von Swabedoo gern zurück gekehrt zu dem,
was bei ihren Großeltern noch ganz natürlich war. Mancher sah auf die Säckchen in einer
Ecke des Zimmers, angefüllt mit kalten, stacheligen Steinen, auf diese Säckchen, die ganz
eckig waren und so schwer, daß man sie nicht mitnehmen konnte. Häufig hatte man nicht
einmal einen Stein zum verschenken bei sich, wenn man einem Freund begegnete. Dann
wünschte der kleine Swabedoodah sich im geheimen und ohne es je laut zusagen, daß jemand
kommen möge, um ihm warme weiche Pelzchen zu schenken. In seinen Träumen stellte er
sich vor, wie sie alle auf der Straße mit einem fröhlichen, lachenden Gesicht herumgingen
und sich untereinander Pelzchen schenkten, wie in alten tagen. Wenn er dann aufwachte, hielt
ihn aber immer etwas davon zurück, es auch wirklich zu tun. Gewöhnlich war es das, daß er
hinausging und sah, wie die Welt "wirklich ist"!

Das ist der Grund, warum das verschenken von warmen, weichen Pelzchen nur noch sehr
selten geschieht, und niemand tut es in aller Öffentlichkeit. Man tut es im geheimen und ohne
darüber zu sprechen: Aber es geschieht! – Hier und dort, immer wieder. Ob Du vielleicht auch
eines Tages......?

....wir fangen schon mal an: wir schenken jedem von Euch ein kleines, weiches Fellchen....

( Verfasser: unbekannt )
( erschienen u. A. im Verlag partisch + röhling, asternweg4, 23795 bad segeberg )

Der Drache des Schreckens

Das Land war grau geworden. Düster und schwer drückten die Wolken auf die einst
fruchtbare Erde. Die Menschen huschten, in Trauerkleider gehüllt, wie gesichtslose Schatten
durch die meist ausgestorbenen Strassen. Fest verschlossen waren die Stadttore. Fremde, die
um Einlass und Quartierbaten, erhielten keine Antwort.

Das war nicht immer so gewesen. Einst blühten in dieser Stadt Handel und Kunst. Die
Menschen hatten glücklich gelacht und sich auf jeden neuen Morgen gefreut. Die Stadttore
waren auch nachts weit geöffnet gewesen, und der Schlüssel der Stadt hatte seinen Platz an
einem grossen Stein mitten auf dem Marktplatz gehabt. Jeder hätte ihn sich nehmen können.
So war es auch in allen anderen Städten des Landes gewesen. Bis zu jenem unglückseligen
Tag, an dem die Ritter der Angst in das Land eingefallen waren.

Heute weiss niemand mehr, wie sie ihren Weg in dieses glückliche Land gefunden haben.
Eines Nachts waren sie plötzlich da.
Sengend und plündernd zogen sie durch die Stadt. Auf dem Marktplatz entzündeten sie ein
grosses Feuer, und alle Menschen der Stadt wurden auf den Platz getrieben. Die Ritter raubten
den alten Stadtschlüssel und verkündeten: "Jedes Jahr werden wir wieder in diese Stadt
kommen. Ihr werdet uns gebührend empfangen und mit allem versorgen, was wir benötigen.
Vor allem aber habt ihr zehn junge, kräftige Männer mit Waffen, Rüstungen und Pferden
bereitzustellen. Sie werden mit uns kommen. Falls ihr diese Forderungen nicht erfüllt, ketten
wir den Drachen des Schreckens los und hetzen ihn auf eure Stadt. Sein giftiger Atem und
sein Feuer würden die Stadt zerstören!"
Daraufhin verschlossen die Ritter der Angst die Stadttore und zogen weiter. Die Menschen
flüchteten in ihre Häuser und hoften, dies alles möge nur eine böser Alptraum sein. Das Leben
auf den Strassen und Plätzen erstarb, und nur noch in der Dämmerung schlichen einige graue
Gestalten blicklos durch die Strassen. Die Ritter der Angst hatten wirklich ganze Arbeit
geleistet: Die Menschen waren ohne Hoffnung und mit der Hoffnung stirbt auch die Liebe
und das Vertrauen in sich selbst und andere.

Jedes Jahr kamen die Ritter der Angst wieder in die Stadt und nahmen zehn bewaffnete
Männer mit sich. Niemand wusste, wohin diese gebracht wurden. Kein Mensch wagte darüber
zu reden.
Eines Jahres trafen sich in einem versteckten Winkel bei der Stadtmauer drei junge Männer.
"Wir werden als Nächste dran sein" flüsterten sie einander zu. "Die Ritter der Angst sind auf
dem Weg hierher. Immer mehr Dörfer und Städte belegen sie mit ihrem Fluch. Unsere Väter
lassen schon Rüstungen anfertigen und nachts weinen sich unsere Mütter die Augen aus. Am
Tag bevor die Ritter der Angst in die Stadt kommen, wollen wir Rüstungen, Waffen und
Pferde nehmen und aus der Stadt fliehen."

So wie sie es geplant hatten, geschah es. am Abend, das Heer der Ritter der Angst liess schon
die Erde zittern, der Staub der vielen Pferde verdunkelte den Horizont, stahlen sich die drei
Männer aus ihren Elternhäusern. Bei der Stadtmauer trafen sie sich. Durch einen von Büschen
und Efeu überwucherten Mauerspalt im hintersten Winkel der Stadt gelangten sie nach
draussen. Sie konnten sehen, wie die Ritter der Angst in die Stadt einzogen und hören, wie sie
tobend durch die Strassen preschten. Am nächsten Morgen verliessen die Ritter die Stadt.
Zehn junge Männer ritten mit hängenden Köpfen hinter ihnen her.

"Wir wollen ihnen heimlich folgen", beschlossen die drei Männer in ihrem Versteck,
"vielleicht gehen sie zum Drachen des Schreckens. Wenn wir ihn töten, ist das Land wieder
frei."
Vorsichtig und mit grossen Abstand ritten sie hinter dem Heer durch das Land. Immer wieder
mussten sie mitansehen, wie die Ritter der Angst nachts in eine Stadt eindrangen und mit
weiteren gerüsteten Männern am nächsten Tag davonzogen.

Schliesslich führte Sie ihr Weg auf einen gewaltigen Berg zu, der den diesigen Horizont
beherrschte. Tagelang änderte sich die Richtung des Heeres um keinen Zoll. Doch eines
Abends stellten die Verfolger fest, dass die Ritter der Angst um ein kleines Wadstück
offenbar einen grossen Bogen geschlagen hatten. Da die Sonne bereits untergegangen war,
beschlossen die drei Männer, im Schutze dieses Wäldchens zu übernachten. Als die Nacht das
Land und den Himmel in ihre dunkle Hand genommen hatte, sahen sie ganz in ihrer Nähe ein
kleines Licht durch die Bäume schimmern. Vorsichtig und leise gingen die drei Männer
darauf zu. Verborgen unter dem dichten Dach einiger Erlen, kamen sie zu einer kleinen Hütte,
deren Fenster ein wärmendes Licht zeigten. Neugierig gingen sie näher, nicht ohne die
Lanzen fest in den Fäusten zu halten. Als sie durch eines der Fenster schauten, sahen sie eine
junge Frau, fast noch ein Mädchen, lesend an einem Tisch sitzen. Die Angst der drei Männer
verflog. Sie klopften und das Mädchen empfing sie freundlich. Als sie jedoch mit ihren
Rüstungen, den Schwertern, Lanzen und Schilden in das Haus gehen wollten, versperrte sie
ihnen den Weg.
"Niemals sah ich in meinem Haus eine Waffe", sprach sie, "und so soll es auch bleiben."
Nach kurzem Zögern legten die drei Männer ihre Rüstungen und Waffen vor dem Haus ab
und traten dann ein. Das Mädchen bat sie an den Tisch, reichte ihnen kühles Wasser, salziges
Brot und eine heisse Suppe. "Ihr seht traurig und niedergeschlagen aus", sagt sie dann.
"Welche Last drückt auf eure Schultern, wer hat euch das Lachen genommen?"

Die Männer erzählten dem Mädchen von ihrer Stadt, den Rittern der Angst und ihrem
Vorhaben, den Drachen des Schreckens zu suchen, um ihn zu besiegen.
"Vielleicht kann ich euch helfen", erwiderte das Mädchen und musterte die drei Männer
aufmerksam. "Aber dazu brauche ich ein wenig Zeit. Morgen früh werden wir weitersehen."
Die drei Männer schliefen in einer kleinen Kammer tief und traumlos. Gestärkt und voller
Mut erwachten sie und bestürmten das Mädchen, zu sagen, wie es ihnen helfen wolle.
"Ich will euch einen Tausch vorschlagen", erwiderte sie lächelnd, "den Drachen des
Schreckens kenne ich gut. Ich weiss, wie ihr ihn überwinden könnt."
aufgeregt waren die drei Männer aufgesprungen: "gutes Mädchen, schnell, sagt uns, wie wir
das anstellen können!"
"Es sind zwei Dinge, die ihr erfüllen müsst", bekamen sie Auskunft. "Ich werde euch dieses
Kästchen mitgeben. Wenn ihr mutlos und ohne Hoffnug seid, dann öffnet es. Vorher nicht.
Ich kann euch dieses Kästchen jedoch nur geben, wenn ich mir dafür eure Lanzen hierlasst.
Die zweite Bedingung ist: ihr müsst zu meiner älteren Schwester reiten, die drei Tagesritte
von hier am See der warmen Quellen wohnt."

Die drei Männer waren nicht sehr begeistert. Wie sollten sie ohne ihre langen Lanzen den
Drachen des Schreckens besiegen können, und wie sollten sie ihn finden, wenn sie der spur
des Heeres nicht weiter folgten? Unentschlossen sahen sie sich an. Schliesslich sagte das
Mädchen: "Meine Schwester kennt den Drachen des Schreckens auch. Ihr werdet dort
wertvolle Hilfe erhalten."

Als die Männer das hörten, beschlossen sie, den Worten zu vertrauen und gaben ihre Lanzen
her. Kaum berührte sie das Mädchen, schmolzen die scharfen Spitzen und tropften auf die
Erde. Die Schäfte zersplitterten und brachen. Verwundert schauten die Männer zu. Sie wagten
jedoch nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Das Mädchen gab den Männern ein kunstvoll
verziertes Kästchen, beschrieb ihnen nochmals den Weg, umarmte jeden von ihnen und
winkte ihnen lange nach.

Drei Tage ritten die Männer und entfernten sich dabei mehr und mehr vom Heer der Ritter der
Angst. am Abend des dritten Tages erreichten sie endlich, müde und erschöpft einen See,
dessen Wasser wunderbar warm war. Ohne Schwierigkeiten fanden sie das Haus, welches
ihnen beschrieben worden war. Auf einer Bank davor sahen sie eine junge Frau sitzen, die ein
Lied summte und sich die Haare bürstete. Als sie die Männer sah, erhob sie sich und ging
ihnen entgegen.
"Willkommen Fremde!" rief sie ihnen zu. "Nehmt den Pferden die Decken ab und lasst sie
trinken. Und ihr selbst erfrischt euch im See"

Nur zu gerne gehorchten die Männer der jungen Frau. Nach dem Bad fühlten sie sich so
kräftig wie noch niemals zuvor in ihrem Leben. Voller Tatendrang wollten sie ihre Rüstungen
wieder anlegen. Die junge Frau jedoch kam lachend aus dem Haus. "Wenn ihr etwas zu essen
haben wollt, müsst ihr eure Rüstungen schon hier liegen lassen und auch die Waffen lasst
bitte vor der Tür. Solange ich hier wohne, soll kein Kriegswerkzeug in den Räumen lärmen."
Die drei Männer waren zwar ein wenig missmutig, aber sie hatten auch Hunger. Ohne
Rüstungen und Waffen traten Sie in das Haus und setzten sich an den Tisch.
"Ihr wurdet von meiner Schwester geschickt, nicht wahr?"
"Woher weisst du das?" die drei waren erstaunt, denn sie hatten noch nicht gesagt, woher sie
kamen.
"Ich habe ihr Kästchen am Sattel eines eurer Pferde gesehen", erwiderte die Frau. "Was wollt
ihr von mir?" Die Männer berichteten wieder von ihrer Stadt, den Rittern der angst und ihrem
Plan, den Drachen des Schreckens zu töten. Die junge Frau hörte aufmerksam zu. Schliesslich
meinte sie: "Ich kenne den Drachen gut. Früher habe ich mit ihm gespielt und wir waren gute
Freunde. Aber seit er von den Rittern der Angst gefangen worden ist, habe ich ihn nicht mehr
gesehen."

Die drei Männer zuckten zusammen. Diese Frau wollte mit dem Drachen des Schreckens
gespielt haben? Sie sehnten sich nach ihren Schwertern. Die Nähe des geschmiedeten Eisens,
die kühle Härte des Schwertgriffs wäre eine Beruhigung gewesen. Aber die Frau lachte sie an
und damit alle ihre Ängste weg. "Ich werde euch helfen. Doch ich brauche Zeit, um meine
Vorbereitungen zu treffen. Legt euch hin, ruht euch aus bis morgen früh. Dann werden wir
weitersehen."

Daraufhin verliess sie das Haus und ging am Ufer des Sees entlang. Die drei Männer schliefen
bis in den frühen Mittag. Als sie erwachten, wurden sie von der Frau wieder in den See
geschickt, und wie am vergangenen Abend fühlten sie die erfrischende Kraft des warem
Wassers. Als sie zum Haus zurückkamen, sagte die junge Frau: "Ich kann euch weiterhelfen,
aber es gibt zwei Dinge, die ihr erfüllen müsst. Meine Schwester wohnt drei Tagesritte von
hier am Rande einer grossen Schlucht. Ihr müsst sie besuchen, denn dort werdet ihr wichtige
Ratschläge bekommen. Als zweites müsst ihr eure Rüstungen hierlassen. Dafür gebe ich euch
ein Kästchen mit. Wenn ihr nicht mehr ein noch aus wisst und sich eure Gedanken vor Angst
überschlagen, dann öffnet es. Esst von den Blättern, die darin liegen und ihr werdet hören, wie
euer Herz zu euch spricht."

Wieder zögerten die Männer lange und besprachen sich ausführlich. Schliesslich meinte einer
von ihnen: "Vielleicht sind unsere Rüstungen beim Kampf gegen den Drachen nur hinderlich.
Ohne sie sind wir viel schneller und wendiger. Ich glaube, die Frau weiss schon, was sie uns
rät. Schliesslich kennt sie den Drachen recht gut."

die Männer gaben der jungen Frau die Rüstungen und diese warf sie in den See. Danach
reichte sie ihnen das kleine Kästchen, beschrieb ihnen nochmals den Weg und die drei
Männer ritten los. Ohne das gewicht ihrer schweeren Rüstungen kamen sie schnell voran.
Trotzdem brauchten sie drei Tage, bis sie an den Rand der gewaltigen Schlucht kamen, wo
das Haus der ältesten Schwester stehen sollte. Der Weg wurde immer enger und gefährlicher.
Wie ein dünner Spinnfaden wand er sich am Rand der Schlucht entlang. Die Männer mussten
von ihren Pferden absteigen und si vorsichtig hinter sich am Halfter führen. Steil stürzte der
Abgrund neben dem schmalen Pfad in die Tiefe und wenn die Pferde Steine lostraten, dauerte
es lange, bis aus der dunklen Tiefe der Aufprall zu hören war.

"Hoffentlich hat diese Schwester nicht nochmals eine Schwester", murmelte einer der Männer
und blickte vorsichtig in die Schlucht hinunter. am Abend sahen sie endlich ein kleines Haus.
Es schmiegte sich an den Berg und die drei schüttelten verwundert die Köpfe: "Wie kann man
nur hier ein Haus bauen? Ein Steinschlag genügt und das ganze Haus wird in die Tiefe
gerissen." Auf einem kleinen in den Felsen geschlagenen Platz konnten sie ihre Pferde
anbinden.
Als die vorsichtig an die Holztür klopften, hörten sie eine Frauenstimme: "Wer immer es ist,
er möge hereinkommen, wenn er Frieden in seinem Herzen trägt." Die Männer sahen sich
betreten an. Dann legten sie ihre Schilde und Schwerter ab und öffneten die Tür. In der Mitte
des Raumes sass eine alte Frau in einem bequemen Sesel und lächelte sie an.
"Seid mir willkommen, Fremde. Was führt euch zu mir?"
Die drei Männer berichteten der Frau, wie deren Schwestern zuvor.
"Ja", sagte die alte Frau, "ich glaube, ich kann Euch helfen, doch zuvor ruht euch aus. Morgen
früh werden wir weitersehen."

Es geschah, wie die alte Frau es wünschte. Nach dem Essen bereiteten sich die Männer ihr
Lager in einem Zimmer des Hauses. Obwohl unter ihnen die Schlucht in dunkle Tiefen
stürzte, schliefen sie gut und erwachten am Morgen voller Mut. Die alte Frau wartete schon
auf sie.
"Wenn ihr heute weiterzieht, folgt der Schlucht. Der Weg ist nicht leicht zu gehen. Achtet auf
jeden Schritt, sonst stürzt ihr in die Tiefe. Danach werdet ihr wieder den grossen Berg sehen.
Dort wird der Drache von den Rittern der Angst gefangen gehalten. Ich werde euch dieses
Kästchen mitgeben. Es wird euch helfen, den Drachen zu überwinden."

Die Männer bedanketen sich. Das Kästchen wog schwer in ihren Händen. Dann traten sie vor
die Hütte und suchten nach den Schwertern. Doch sie fanden nur noch ihre Schilde.
"Wo sind unsere Schwerter?" riefen die drei entsetzt, "ohne sie sind wir völlig hilflos!"
Die alte Frau trat zu ihnen: "Ich habe sie genommen, denn sonst hätte ich euch diese Kästchen
nicht geben können. Glaubt mir, eure Schwerter hätten nichts genutzt gegen den Drachen.
Wenn ihr ihm aber gegenübersteht und nicht mehr weiter wisst, dann öffnet dieses Kästchen."

Niedergeschlagen standen die drei Männer vor der Frau. Endlich hob einer den Kopf und sah
sie an: "Wer seid Ihr, alte Frau? Und wer sind Eure Schwestern?"
"Habt ihr sie nicht danach gefragt? Das wundert mich. Die Ritter der Angst müssen schon
sehr mächtig geworden sein, wenn ihr nicht einmal mehr wagt, fremde Menschen nach dem
Namen zu fragen." Die alte Frau schüttelte besorgt den Kopf. "So wisst also, meine jüngste
Schwester ist die Fee der Hoffnung. Sie ist noch fast ein Kind. Aber ihre Kraft wächst von
Tag zu Tag. Ihre ältere Schwester ist die Fee der Liebe. Manchmal ist sie sehr enttäuscht und
sieht fast keinen Weg mehr. aber sie gibt nicht auf und sie hat recht, denn zu verlieren hat sie
nichts. Sie kann nur siegen. Und ich, die ich meine beiden Schwestern behütet und umsorgt
habe, während sie grösser wurden, ich bin die Fee des Vertrauens. Manche meinen, meine
Kraft sei schon erloschen, weil ich so alt bin, aber glaubt mir, meine Kraft wird niemals
schwinden. Sie ist so beständig wie die Welt. Deshalb geht jetzt und lasst euch nicht beirren.
Denkt an unsere Worte und euch wird nichts geschehen."

Die drei Männer gehorchten der alten Frau und alles war, wie sie es ihnen gesagt hatte. Der
Weg durch die Schlucht war gefährlich. Manchmal wollten sie nicht weitergehen, aus Angst
in die Tiefe zu stürzen. Aber in ihren Herzen trugen sie die Erinnerung an die drei
Schwestern; das gab ihnen Kraft, Mut und Zuversicht. Sie überwanden die Schlucht und
sahen nun den hohen Berg vor sich. Drei Tage ritten sie darauf zu. Als sie den Fuss des
Berges erreicht hatten, konnten sie den Gipfel nicht mehr erkennen. Er schwebte irgendwo
weit über ihnen in dunklen, bedrohlichen Wolken. Ratlos suchten die drei Männer nach einem
Weg zwischen den grossen Felsen und dem losen Geröll. Aber nirgendwo fanden sie einen
Hinweis auf einen gangbaren Pfad. Verzweifelt sahen sie sich an: "Was sollen wir jetzt tun?
Es gibt keinen Weg hinauf zum gipfel. Wir werden uns verirren oder abstürzen!" meinte einer
von ihnen mutlos.
"Lasst uns das erste Kästchen öffnen", sagte darauf der zweite. die Männer öffneten das
Kästchen, welches ihnen die Fee der Hoffnung mitgegeben hatte. Als sie den Deckel
zurückklappten, schwebte daraus ein blaues Licht, das mit strahlendem Glanz leuchtete. Es
schien ein wenig zu warten, dann entfernte es sich langsam. "Das Licht zeigt uns einen Weg.
Schnell, wir wollen ihm folgen."

Weil aber das dritte Kästchen so schwer war, mussten es zwei Männer tragen und der dritte
brauchte beide Hände, um das andere Kästchen mit sich zu nehmen. So kam es, dass sie am
Fusse des Berges auch noch ihre Schilde zurücklassen mussten. Ohne Waffen und ohne
Schutz folgten die Männer dem blauen Licht den Berg hinauf. Bald wurden auch sie von den
dunklen Wolken eingehüllt. Die Luft war dick und es roch nach Moder, Tod und Verwesung.
Schliesslich stand das Licht still. als die Männer näherkamen, sahen sie, dass sie den Gipfel
des ´Berges erreicht hatten. Das Licht schwebte höher und erleuchtete einen weiten Platz.

Und dort lag der Drache des Schreckens. Sein gewaltiger, schuppenbesetzter Kopf lag auf den
Vorderpranken, die mit fürchterlichen Krallen bewehrt waren. Die mächtigen Schwingen
hatte es zusammengefaltet, die Augen geschlossen. Er schlief. Vor dem Drachen, auf dem
felsigen Platz, sahen die drei Männer Spuren wilder Kämpfe. Schwerter und Schilde,
Rüstungen und Lanzen, Gerippe und Knochen lagen verstreut.

"Ich habe Angst", flüsterte einer der Männer - und das blaue Licht leuchtete ein wenig stärker.
"Ich auch", sagte der zweite, und wieder schien das Licht zu wachsen. "Mir geht es genauso".
Die Stimme des dritten Mannes war völlig tonlos - und jetzt strahlte das blaue Licht heller als
die Mittagssonne.

Der Drache blinzelte und bewegte sich unruhig. Wahrscheinlich hatte diesen düsteren Ort
sogar die Sonne gemieden. Die grauen, gelben und schwarzen Wolken, die den Gipfel
umhüllten, waren auch zu dicht und dick.
Jetzt hob der Drache den Kopf.
Die drei Männer wichen zurück.
"Er öffnet die Augen" stiess einer amtelos zwischen blutleeren Lippen hervor.

Der Drache blickte sie an, sah ihnen direkt in die Augen. Sein Blick war traurig und voller
Sehnsucht. Er schüttelte das mächtige Haupt, als wolle er den Schlaf vertreiben oder eine böse
Erinnerung. Er erhob sich und die drei Männer sahen, dass er auf einer unzähligen Menge von
Schlüsseln gelegen hatte.
"Die Stadtschlüssel" murmelte einer der Männer. "Hier sind die Stadtschlüssel versteckt. Wir
müssen sie zurückbringen!"

Und dann entdeckten die drei Männer die Ketten, welche den Drachen hier auf dem
Berggipfel festhielten. Dicke, starke Eisenketten, mit schweren Schlössern versehen, lagen
ihm um Hals und Beine. Der Drache konnte sich zwar bewegen, fliegen jedoch konnte er
nicht. Er begann seine mächtigen Schwingen zu entfalten. Hilflos schlug er damit durch die
Luft. Es rauschte wie bei einem Herbststurm im dichten Wald. Fauchend und drohend öffnete
er sein Maul und bewegte sich ein wenig auf die drei Männer zu. Sie konnten den heissen
Atem auf ihrem Gesicht spüren und wichen soweit zurück, wie es nur ging.

"Schnell" rief einer der Männer, "wir öffnen das zweite Kästchen". Hastig entnahmen sie dem
zweiten Kästchen die Blätter, die ihnen die Fee der Liebe mitgegeben hatte und assen sie.
Zunächst schien sich nichts verändert zu haben. Unbezwingbar und gewaltig stand der Drache
auf dem Platz. Die Ketten an seinen Beinen warem zum Zerreissen gespannt und zitterten. Als
die Männer schon glaubten, die Fee der Liebe hätte sie beschwindelt und ihre Macht sei eben
doch zu schwach, hörten sie plötzlich eine sanfte Stimme: "Fremde hört mich an. Bitte hört
doch. Ich will euch nichts tun. Hört ihr mich denn nicht?"

Verwundert blickten sich die drei Männer um. Es war niemand da, die seltsame Stimme klang
auch nicht in ihren Ohren. Sie schien direkt in ihrem Herzen zu sprechen.
"Hier!" sprach die sanfte Stimme weiter, "ich bin es, der zu euch spricht. Könnt ihr mich
wirklich hören? Könnt ihr mich verstehen?"
"Es ist der Drache!" Die Männer überlief ein Schauer, so als ob sie einen bösen Traum
verscheuchen wollten, schüttelten sie sich. "Der Drache des Schreckens spricht zu uns".

"Ich bin kein Drache des Schreckens." Wieder hörten sie die Stimme in ihren Herzen und jetzt
sahen sie auch, wie sich die lange, gegabelte Zunge des Drachen bewegte. "Ich bin ein Drache
der Lüfte, ein Drache der Freude und des Spiels. Die Ritter der Angst nahmen mich gefangen
und ketteten mich hier fest. Sie fürchten sich vor mir, denn wenn ich frei bin, wenn mich
keine Ketten behindern, verlieren sie ihre Macht. Ich kann sie aus dem Land vertreiben. Da
sie selbst nicht stark genug sind, mich zu vernichten, bringen sie jedes Jahr eine Unzahl
junger Männer, die mit mir kämpfen müssen. Ihr seid die ersten, die nicht von den Rittern der
Angst hierher gebracht wurden. Ihr seid die ersten, die ohne Waffen kommen. Und ihr seid
die ersten, die mich verstehen können, zu denen ich sprechen kann. Bitte bindet mich los und
lasst mich wieder fliegen. Ein Drache der Freude verkümmert, wenn er angekettet ist."

Unsicher standen die drei Männer dem Drachen gegenüber. Die Blätter der Fee der Liebe
hatten zwar ihre Herzen geöffnet, aber sie zögerten noch und wussten nicht, ob sie den
Worten des Drachens glauben konnten.
Schliesslich erinnerten sie sich an das dritte Kästchen. Als sie es öffneten, sahen sie darin ihre
drei Schwerter. Aber die scharfen Klingen waren umgeschmiedet. Aus jedem Schwert hatte
die Fee des Vertrauens einen Schlüssel geformt. Da verstanden die drei Männer: Sie nahmen
die Schlüssel, die früher einmal ihre Schwerter gewesen waren, und traten zu dem Drachen.
Dieser zerrte vor Aufregung und Freude an den dicken Ketten, als jeder der Männer eines der
grossen Schlösser öffnete.

Dan entfaltete er seine gewaltigen Schwingen und liess sie einige Male, so als müsse er erst
wieder ihre Kraft prüfen, die Luft zerteilen. Mit den gelenkigen Vorderpranken nahm er
vorsichtig alle Stadtschlüssel an sich: "Ich werde sie zurückbringen" hörten die Männer
wieder die Stimme in ihren Herzen. "Habt Dank für eure Liebe und euer Vertrauen. Niemals
wieder werden die Ritter der Angst dieses Land heimsuchen."

Dann schwang er sich mit einem mächtigen Flügelschlag vom Gipfel des Berges empor und
mit jedem Schwung seiner Flügel wischte er die dichten Wolken ein wenig mehr zur Seite.
Das blaue Licht der Hoffnung erlosch langsam und an seiner Stelle brach die Sonne eines
neuen Tages durch den letzten Rest der düsteren Wolkenschleier.

(aus: "die Mondsteinmärchen" von Roland Kübler)

DAS LICHT AM ENDE DES GANGES

Eines Tages hatte er beschlossen, die Gitterstäbe nie mehr loszulassen. Er konnte sich nicht
mehr an den Zeitpunkt erinnern. Ihm war jedoch bewußt, dass die Entscheidung von Angst
getrieben worden war: Angst vor dem Fallenlassen, Angst vor der Dunkelheit unter ihm, vor
dem Ungewisssen. So klammerte er sich krampfhaft an die Stäbe des vergitterten Fensters. Er
wusste nicht einmal mehr, weshalb er hier war. Aus dem Dunkel seiner Erinnerungen
leuchtete hin und wieder ein kleiner Fetzen Licht.

Eine Zelle war da gewesen, eine Tür, dahinter ein dunkler Gang mit einem kleinen Licht am
Ende. In sehr seltenen Augenblicken glaubte er, diesen Gang schon ein paar Mal betreten, das
Licht gesucht zu haben. Und dann war da ein unsagbarer Schmerz, der sein Gedächtnis zu
verriegeln schien.

Zwei Wächter waren am Ende des Ganges gewesen: ein Mann und eine Frau. Oft hatten sie
ihn gehindert, den Gang zu verlassen und an die Sonne zu treten. Aber sie hatten ihn auch
behütet und versorgt. Nie war deshalb sein Wunsch sich den Weg in die Freiheit zu
erkämpfen, so stark gewachsen, dass er es auch nur einmal ernsthaft versucht hätte. Aber
diese Erinnerung war sehr tief in ihm versteckt, zeigte sich nur manchmal in hellen Nächten,
wenn er träumte. Und diese Träume vergaß er immer schnell.

Irgendwann hatte er etwas entdeckt: Wenn er mit aller Kraft hochsprang zu dem Fenster an
der Wand und die Gitterstäbe zu fassen bekam, dann konnte er sich an guten Tagen daran
hochziehen. Manchmal gelang es ihm, seinen Kopf zwischen die Gitterstäbe zu drängen und
einen Blick auf die Sonne zu erhaschen. Wie glücklich er gewesen war, als er das zum ersten
Male schaffte!

Seitdem hatte er sich oft an die Stäbe gehängt, Kraft gesammelt und versucht die Sonne zu
sehen. Wenn er stark genug gewesen war, hatte er es geschafft. Und seitdem hatte er im
Grunde nur für diese kurzen Augenblicke gelebt, in welchen er eine Ahnung fühlte von Sonne
und Freiheit. Da es ihm an Essen und Trinken selten mangelte, ihm sonst nichts zu fehlen
schien, hatte er sich inzwischen mit diesem Leben abgefunden.

Dann, eines Tages, hatte er gespürt, dass ihn die Kraft verließ. Seine guten Tage waren
seltener geworden; er hatte sich gefürchtet, nie wieder einen Blick auf die sonne werfen zu
können. So hatte er sich also entschieden, beim nächsten Mal die Gitterstäbe nicht mehr
loszulassen.
Mit der Zeit hatte er vergessen, was vorher gewesen war, erinnerte sich kaum an die
Zelle, den Gang und die Wächter. Unbestimmte Ängste und Befürchtungen hatten sich in ihm
eingenistet. Und ab irgendeinem Zeitpunkt konnte er sich, selbst wenn er gewollte hätte, nicht
mehr fallen lassen. Zu groß war die Angst, mühsam vergessene Enttäuschungen wieder
erleben zu müssen.

Nun hing er an den Stäben, festgeklammert, verkrampft und voller Furcht. An starken Tagen
gelang es ihm immer noch, sich hochzuziehen und sein Gesicht zwischen die Stäbe zu
pressen. Aber es wurde mit zunehmendem Alter seltener, erfüllte ihn aber dennoch mit Freude
und Wehmut.

Irgendwann vergaß er die Wächter, die Zelle, den Gang und das Licht an seinem Ende
endgültig. Für ihn gab es nur noch einen winzigen Lebensbereich: das Fenster, die Gitterstäbe
und die immer selteneren Blicke auf die Sonne. So starb der Mann, wie er seine letzten Jahre
verbracht hatte: festgeklammert an dem, was er für wichtig und lebenswert gehalten hatte.

Als man ihn irgendwann einmal fand, verstand niemand, was da geschehen war. Die Wächter
waren längst verschwunden, die Tür der Zelle offen, der Weg in die Freiheit nicht leicht, aber
durchaus zu bewältigen. Der Mann hätte nur loszulassen brauchen, sich nur fallen lassen.
Vielleicht hätte er sich verletzt, vielleicht auch die Tür erst nach langem Umhertasten in der
Dunkelheit gefunden. Auch der dunkle Weg durch den langen Gang hätte ihm sicherlich
Abschürfungen beigebracht, ihn manchmal geängstigt.

Aber er hätte jederzeit die Zelle und den Gang verlassen können; niemand hätte ihn gehindert.
Weil er den Mut zu einem Versuch nicht gefunden hatte, war es ihm niemals möglich
gewesen, sein Leben zu ändern. Er hätte nur hinauszugehen brauchen, hinaus in die Freiheit -
und hätte in der Sonne Leben können.

... und wir wünschen jedem von euch, dass es euch nicht so ergeht!

(von Heinz Körner)

"Das kleine Glück am Wegesrand"

Ich ging so den Weg meines Lebens, war genervt, traurig und frustriert. Alles war grau in
grau, wo ich auch hinschaute, kein Licht war zu sehen und keine Wärme zu spüren. Wer ich
bin... fragt Ihr, ich bin keiner und alle die dem großen Glück hinterher rennen. Ständig auf der
Suche nach dem Sinn des Lebens.
Tja und so lief und lief ich immer weiter.

Da sah ich am Wegesrand etwas aufblitzen, neugierig ging ich näher, wollte sehen was da so
leuchtet. Es sah aus wie ein Diamant, nein wie ein Geldschein oder doch eher wie
Schmuckstück, das verwirrte mich etwas. Es sah schön aus und ich wollte es aufheben, doch
da flatterte es ein Stück weg von mir.

"He bleib hier" sagte ich erstaunt, "lauf nicht weg."
"Ich will aber nicht von dir angefasst werden", meinte dieses winzige Blitzen zu mir. Erstaunt
schaute ich das kleine Ding an, "du kannst ja reden."

"Ja kann ich und ich habe schon oft versucht dich anzusprechen, aber du wolltest mich nicht
hören", erwiderte es. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus und hockte mich neben den
Winzling, der so schön blitzte. "Und warum kann ich dich dann jetzt hören?" fragte ich es.
"Vielleicht weil du jetzt endlich so weit bist, mich spüren und empfinden zu wollen." lächelte
es mich an.

Fragend schaute ich es an, "Was bist du eigentlich, du siehst aus wie ein Diamant aber
gleichzeitig auch wie ein Geldschein und Schmuckstück aus."

"Ich bin das was du sucht bzw. das was du meinst suchen zu müssen was dir dein großes
Glück bringt," erwiderte es, "in meiner wahren Gestalt wolltest du mich nie sehen, deswegen
hab ich mich verkleidet." "Das versteh ich nicht," antwortet ich dem kleinen Ding," und
warum sollte ich dich jetzt empfinden wollen?"

"Weil du schon so lange auf der Suche nach dem großen Glück bist und so langsam begreifst
das es so vielleicht nicht zu finden ist" grinste es mich frech an. "Schlaumeier und wie sollte
ich es sonst finden können, wie heißt du überhaupt?" fragte ich es.
"Ich bin das kleine Glück und sehe schon seit Jahren das du immer an uns vorbeiläufst, ohne
uns zu sehen." hüpfte es um mich herum.

Verwirrt schaute ich zu wie es vor mir hin und her hüpfte. Es blitzte und leuchtete mir in die
Augen, aber ich konnte immer noch nicht erkennen was es wirklich war.
"Warum bist du alleine, gibt es noch mehr von dir?" fragte ich neugierig. "Es gibt ganz viele
von mir, Tausende, ne was sagt ich Milliarden von uns." lachte es vergnügt, "ich bin nie
alleine, so wie du."

"Ich bin alleine weil mir viel grausames passiert ist und ich nicht mehr vertrauen kann",
meinte ich schon etwas wütend. So unverblümt hatte mir noch nie jemand sowas ins Gesicht
gesagt und schon gar nicht so ein Winzling. "Aber ich hab doch recht," schüttelte es den
Kopf, "du bist alleine weil du dir selbst im Weg stehst."

Na toll dachte ich, sitze hier und laß mir von so einem Winzling solche Sachen auf den Kopf
zusagen.

"Wo sind den die anderen alle, von denen du eben erzählt hast?" fragte ich schon ziemlich
sauer. "Schau dich mit offenen Augen um und du wirst sie sehen," strahlte es mich an.

Ich schaute mich um und nahm alles was an meinem Wegesrand grau in grau lag in
Augenschein, auf einmal blitzte und blinkte es nur so auf. Überall sah ich tausende von
kleinen Lichtern auftauchen die in allen Regenbogenfarben leuchteten.

Erstaunt drehte ich mich um und fragte, "Wieso kann ich immer noch nicht erkennen wer ihr
wirklich seit?" "Du mußt deine Augen, deine Ohren, deine Tastsinne wirklich aufmachen und
deine Seele öffnen die du vor langer Zeit in dir eingesperrt hast weil dein Glück dich
verlassen hat," meinte es nur.

Zitternd weil ich langsam Angst bekam versuchte ich mich wirklich zu öffnen und zu glauben
das ich dem Winzling vertrauen kann. Langsam ließ ich meinen inneren Gefühlen freien lauf
und öffnete die Tür zu meiner Seele.

Da hüpfte das kleine Glück auf meine Hand und verwandelte sich in eine Träne. "Ich bin
deine Träne die Du vor langer Zeit ohne es zu merken verloren hast, weil du das Schöne um
dich herum nicht mehr sehen, fühlen, spüren und empfinden konntest,"lächelte sie mich an,"
schau was sich noch alles ändert."

Ich schaute mich mit offenen Augen um und sah wie sich so nach und nach alle kleinen
Lichter in ihre wahre Gestalt zurück verwandelten. Da waren auf einmal viele bunten Farben
zu sehen, Schmetterlinge, Käfer, Blumen, Grashalme, Wolken, Bäume, ein kleiner Bach und
vieles mehr. Ich saß zwischen all dem schönen und fühlte auf einmal mein Glück, das alles
spüren, fühlen, hören und empfinden zu können.

Mir liefen die Tränen übers Gesicht, weil ich begriff das all das Schöne um mich herum schon
immer da war und ich es nur lange Jahre nicht mehr sehen und spüren konnte. Da streichelte
mir der Wind übers Haar, ein kleiner Vogel zwitscherte für mich seine Melodie, die Sonne
gab mir Wärme und strahlte mit allen um die Wette. Ich fühlte mich geborgen wie lange
schon nicht mehr und wußte ich brauch nicht nach meinem großen Glück suchen. All das
Schöne des Lebens zusammen ist mein großes Glück.

Die kleine Träne lächelte mich ganz lieb an und sagte, "Ja das alles war immer um dich herum
und hat versucht sich bemerkbar zu machen, wenn du über das Gras gingst streichelte es dich,
wenn du an einem Baum vorbei gingst spendete er dir seinen Schatten. Die Schmetterlinge
haben nur für dich ihren Reigen getanzt und vieles mehr. Nun laß mich runter und meine
Kameraden und ich können in den Kreislauf des Lebens zurückkehren, wir wissen nun das du
alles das sehen, hören, fühlen und empfinden kannst. Du wirst es nicht mehr verlieren auch
wenn es dir ab und zu noch schwer fallen wird es anzunehmen, werden wir dir dann jedesmal
wenn du weinst, dir die Erinnerung daran bringen.

Langsam ließ ich meine Träne runtergleiten zu den anderen die den Boden schon berührten
und sah zu wie sie im Boden versanken. Da wuchs an dieser Stelle eine kleine weiße Blume
die mich anlächelte und sagte "Willkommen in deinem großem Glück".

(von Carla - die auch das Copyright hat! )

Da darfst Du sein

Magst Du mit in mein Traumland kommen?

Ich nehm Dich gerne mit auf die Reise...

Einst, vor langer, langer Zeit, als die Wolken noch rosa waren und
nach Himbeeren schmeckten, gab es ein Land das nannte sich Dadarfstdusein.

Dadarfstdusein, war wunderschön...
Blumen wohin man auch sah und wenn man durch die
Wiesen ging, hörte man die Schmetterlinge lachen.

Auch gab es keine schlechten Menschen. Alle waren
gut zueinander. Neid und Habsucht gab es nicht.
In Dadarfstdusein gab es nämlich kein Geld...nicht mal Tauschwaren.
Einer half dem Andren wo er konnte und setzte so ganz
gezielt seine Fähigkeiten ein.

Zum Beispiel machte der Eine dem Anderen den Garten hübsch,
während dieser, der kein Talent dafür hatte,
dem Anderen die Wände strich usw.

Was es so nicht zu essen gab, bauten die an, die dafür das beste
Händchen hatten und Trinken wurde vom nahe gelegenen
Wasserfall geholt...der jede Stunde anders schmeckte.
Die Bienen brachten den Honig und die Menschen beschützen sie in
dem sie Ihnen halfen Bienenstöcke zu bauen
damit sie nicht ganz soviel Arbeit hatten.

Der Bär kam zum Fellwechsel aus den Wäldern und ließ sich
genüßlich von den Kindern kämmen. So juckte es ihn
nicht so sehr und die Leute bekamen gute dichte Wolle.

So lebten sie Hand in Hand und glücklich
miteinander...Menschen, Tiere und auch die Pflanzen.

Irgendwann verschwand Dadarfstdusein von der
Erdoberfläche...nach und nach und zog sich zurück.

Wie das kam wollt Ihr wissen?

Nun, eines Tages kam ein Fremder aus einem Land das keiner
kannte....es hieß Verlorenehoffnung...und verbreitet Mißgunst und
Angst. Er machte sich lustig über die friedlich lebenden Wesen in
Dadarfstdusein und ließ nichts unversucht dieses Wunderland zu zerstören.

Als der Zauberer von Dadarfstdusein dies bemerkte hob er seine
Hand und rief: "Hiermit soll Dadarfstdusein für alle Zeit von der
Erde verschwinden....es wird nur noch zu finden sein von Lebewesen
die reiner Seele sind! Hier nun soll die Zuflucht sein für alle
Leidenden, Geprüften und Geplagten...nie wieder soll Böses
dieses Land betreten!"

Und so geschah es...

Manchmal, tief in der Nacht, wenn alles still ist und man genau
hinhört, kann man trotz aller Ferne manchmal die Schmetterlinge
lachen hören...Sie freuen sich auf die vielen reinen Seelen,
die noch ihren Weg ins Dadarfstdusein-Land finden werden.

Kommst Du mit?

(by Ghi)

Das schönste Herz ...

Eines Tages stand ein junger Mann mitten in der Stadt
und erklärte, dass er das schönste Herz im ganzen Tal habe.
Eine große Menschenmenge versammelte sich
und sie alle bewunderten sein Herz,
denn es war perfekt.

Es gab keinen Fleck oder Fehler an ihm.

Ja, sie alle gaben ihm Recht,
es war wirklich das schönste Herz,
was sie je gesehen hatten,
der junge Mann war sehr stolz
und prahlte
laut über sein schönes Herz.

Plötzlich tauchte ein alter Mann vor der Menge auf und sagte:
"Nun, Dein Herz ist nicht mal annähernd so schön wie meines!"

Die Menschenmenge und der junge Mann schauten das Herz des alten Mannes an,
es schlug kräftig, aber es war voller Narben,
es hatte Stellen, wo Stücke entfernt und durch andere ersetzt worden waren,
aber sie passten nicht richtig, und es gab einige ausgefranste Ecken,
genauer gesagt waren an einigen Stellen tiefe Furchen, wo ganze Teile fehlten.

Die Leute starrten ihn an:
„Wie kann er behaupten, sein Herz sei schöner?" dachten sie.

Der junge Mann schaute auf des alten Mannes Herz, sah dessen Zustand und lachte:
"Du musst scherzen", sagte er,
"Dein Herz mit meinem zu vergleichen,
... meines ist perfekt und Deines ist ein Durcheinander aus Narben und Tränen."

"Ja", sagte der alte Mann,
"Deines sieht perfekt aus, aber ich würde niemals mit dir tauschen, ... jede Narbe steht für
einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe, ... ich reiße ein Stück meines Herzens
heraus und reiche es ihnen, und oft geben sie mir ein Stück ihres Herzens, das in die leere
Stelle meines Herzens passt, ... aber weil die Stücke nicht genau sind, habe ich einige raue
Kanten, die ich sehr schätze, denn sie erinnern mich an die Liebe, die wir teilten.

Manchmal habe ich auch ein Stück meines Herzens gegeben, ohne dass mir der andere ein
Stück seines Herzens zurückgegeben hat, das sind die leeren Furchen.

Liebe geben heißt manchmal auch ein Risiko einzugehen. Auch wenn diese Furchen
schmerzhaft sind, bleiben sie offen und auch sie erinnern mich an die Liebe, die ich für diese
Menschen empfinde und ich hoffe, dass sie eines Tages zurückkehren und den Platz ausfüllen
werden.
Erkennst du jetzt, was wahre Schönheit ist?"

Der junge Mann stand still da und Tränen rannen über seine Wangen,
er ging auf den alten Mann zu, griff nach seinem perfekten jungen und schönen Herzen und
riss ein Stück heraus, er bot es dem alten Mann mit zitternden Händen an.

Der alte Mann nahm das Angebot an, setzte es in sein Herz, er nahm dann ein Stück seines
alten vernarbten Herzens und füllte damit die Wunde des jungen Mannes Herzen,
es passte nicht perfekt, da es einige ausgefranste Ränder hatte.

Der junge Mann sah sein Herz an,
nicht mehr perfekt, aber schöner als je zuvor,
denn er spürte die Liebe des alten Mannes in sein Herz fließen.
Sie umarmten sich und gingen weg,
Seite an Seite.

(Verfasser unbekannt)

Der Zauberstern

Der kleine Wolf Hope
lebte mit seinen Rudel in den großen Wäldern.
Wölfe leben immer in Rudeln,
doch Hope war nicht glücklich dort.
Jede Nacht wenn er sich traurig und
einsam fühlte heulte er seinen Schmerz in den Himmel.
Doch nur der Mond und die Sterne waren seine Zuhörer.
Eines Nachts streichelte ihn eine warme Hand
über die Stirn und er erwachte aus seinen Schlaf.
Eine Elfe setzte sich zu ihm
und kraulte ihm seinen Pelz und sprach ganz leise in sein Ohr.
Ich will das Du nicht mehr heulen musst
durch die lange Nacht.
Sieh zum Himmel, denn ich schenke Dir deinen eigenen Stern.
Es ist ein Zauberstern.
Immer wenn Du traurig bist, wird er dich trösten.
Wenn du frierst, wird er dich wärmen.
Er wird dein Freund sein was immer tust und wo immer Du bist.
Du bist nie mehr allein.
Wenn Du eines Tages gehen willst,
weist er dir den richtigen Weg.
Aber Du wirst ihn nie wirklich spüren oder je berühren können,
sondern nur in deinen Herzen ganz tief fühlen.
Er ist nur mit deinem Herzen sichtbar.
Die Elfe streichelte ihn noch mal sanft
und verschwand in der finsteren Nacht.
Hope war glücklich
und jede Nacht bevor er einschlief
sah er seinen Stern am Himmel stehen
und war nie mehr einsam.
Denn er war zu zweit wenn auch allein.

(unbekannt)

Warum die Liebe blind ist

Es wird erzählt, dass alle Gefühle und Qualitäten der Menschen ein Treffen hatten.

Als die Langeweile zum dritten Mal gähnte, schlug der Wahnsinn, wie immer sehr gewitzt
vor: "Lasst uns Verstecken spielen!"

Die Intrige hob die Augenbraue, und die Neugierde konnte sich nicht mehr zurückhalten
und fragte: "Verstecken? Was ist das?" - "Das ist ein Spiel", sagte der Wahnsinn.
"Ich verstecke mein Gesicht und fange an zu zählen, von eins bis eine Million.
Inzwischen versteckt ihr euch. Wenn ich das Zählen beendet habe, wird der erste von
euch, den ich finde, meinen Platz einnehmen um das Spiel danach fortzusetzen".

Die Begeisterung und die Euphorie tanzten vor Freude. Die Freude machte so viele
Sprünge, dass sie den letzten Schritt tat um den Zweifel zu überzeugen.
Sogar die Gleichgültigkeit, die sonst keine Interessen hatte, machte mit. Aber nicht
alle wollten teilnehmen: Die Wahrheit bevorzugte es sich nicht zu verstecken, wozu?
Zum Schluss würde man sie immer entdecken und der Stolz meinte, dass es ein dummes
Spiel wäre (im Grunde ärgerte er sich, dass die Idee nicht von ihm kam)
und die Feigheit zog vor, nichts zu riskieren.

"Eins, zwei, drei ... „, der Wahnsinn begann zu zählen. Als erste versteckte sich
die Trägheit, die sich wie immer hinter den ersten Stein fallen ließ. Der Glaube
stieg zum Himmel empor und die Eifersucht versteckte sich hinter dem Schatten des
Triumphes, der es aus eigener Kraft geschafft hatte, bis zur höchsten Baumkrone
zu gelangen. Die Großzügigkeit schaffte es kaum sich zu verstecken, da sie bei allen
Verstecken, die sie ausfindig machte, glaubte, ein wunderbares Versteck für einen ihrer
Freunde gefunden zu haben. Ein kristallklarer See, ideal für die Schönheit. Der Spalt
eines Baumes, ideal für die Angst. Der Flug eines Schmetterlings, das Beste für die
Wolllust. Ein Windstoß... großartig für die Freiheit und sie versteckte sich auf
einem Sonnenstrahl. Der Egoismus dagegen fand von Anfang an einen sehr guten Ort,
luftig gemütlich... aber nur für ihn allein. Die Lüge versteckte sich im Meeresgrund
(stimmt nicht, in Wirklichkeit versteckte sie sich hinter dem Regenbogen). Die Leidenschaft
und das Verlangen, im Zentrum des Vulkans. Die Vergesslichkeit...
ich habe vergessen wo sie sich versteckte, aber das ist nicht so wichtig.

Als der Wahnsinn 999.999 zählte, hatte die Liebe noch kein Versteck gefunden.
Alle Plätze schienen besetzt zu sein... bis sie den Rosenstrauch erblickte und gerührt
entschloss, sich in seinen Blüten zu verstecken. "Eine Million", zählte der Wahnsinn und
begann zu suchen. Die erste, die entdeckt wurde, war die Trägheit, nur drei Schritte
vom ersten Stein entfernt.

Danach hörte man den Glauben, der mit Gott im Himmel über Theologie diskutierte.
Die Leidenschaft und das Verlangen hörte man im Vulkan vibrieren. In einem unachtsamen
Moment fand er die Eifersucht und so natürlich auch den Triumph. Den Egoismus brauchte
er gar nicht zu suchen, ganz allein kam er aus seinem Versteck, das sich als Bienennest
herausstellte. Vom vielen Laufen empfand er Durst und als er sich dem See näherte
entdeckte er die Schönheit. Mit dem Zweifel war es noch einfacher, er fand ihn auf
einem Zaun sitzend, da dieser sich nicht entscheiden konnte, auf welcher Seite er sich
verstecken sollte.

So fand er einen nach dem anderen.
Das Talent hinter dem Frischen Gras, die Angst in einer dunklen Höhle,
die Lüge hinter dem Regenbogen (stimmt nicht, sie war im Meeresgrund) und sogar die
Vergesslichkeit, die schon wieder vergessen hatte, dass sie Verstecken spielte.

Nur die Liebe tauchte nirgendwo auf.

Der Wahnsinn suchte hinter jedem Baum, in jedem Bach dieses Planeten auf jedem Berg
und als er schon aufgeben wollte, erblickte er die Rosen. Mit einem Stöckchen fing er
an die Zweige zu bewegen, als auf einmal ein schmerzlicher Schrei aufkam. Die Dornen
hatten der Liebe die Augen ausgestochen. Der Wahnsinn war hilflos und wusste
nicht, wie er seine Tat wieder gut machen sollte. Er weinte, entschuldigte sich bei ihr
und versprach der Liebe, für immer ihr Begleiter zu sein.

Seit dieser Zeit, seitdem das erste Mal auf Erden Verstecken gespielt wurde,
ist die Liebe blind und der Wahnsinn immer ihr Begleiter.

(by Seelenherz)